Nein, Kohl kam nicht gleich nach Adenauer ans Ruder
Da bekam ich doch gleich auf die erste Sudelei eine bitterböse E-Mail von Sascha K. (18) aus M., seines Zeichens Ortsvorsitzender des RCDS (Ring christlich demonstrativer Studenten). Er schrieb, es sei eine ganz große Schweinerei, den Tod des Bundeskanzlers in einhundert, bzw. neunundneunzig Tagen vorherzusagen, quasi schon ein Aufruf zu terroristischem Tun.
Lieber Sascha K. aus M.! Erstens wäre das, wenn es das wäre, eine Sudelei und keine Schweinerei, und zweitens habe ich nicht von seinem Ableben, sondern seiner Abwahl gesprochen. Abwahl ist der Vorgang, der passieren kann, wenn Bundestagswahl ist und viele Wähler ihr Kreuzchen bei den Oppositionsparteien machen. (Nein lieber Sascha, die Oppositionsparteien sind keine Statisten, die dürfen auch mal ran.) Natürlich ist mir bewusst, dass man sich mit achtzehn nur sehr schwer vorstellen kann, unter einem anderen Kanzler als Kohl zu leben; schließlich kann auch ich mir das, wenn auch aus ganz anderen Gründen, kaum noch vorstellen.
Wenn es Sie tröstet, lieber Sascha K., so gebe ich gerne zu, die Verhältnisse in diesem Land zu vordergründig Ihrem großen Vorsitzenden angekreidet zu haben. Immerhin ist Ihr Koalitionspartner, die F.D.P., schon ganze achtundzwanzig Jahre im Amt und spielt damit in der Liga eines Suhartos. Länger war nur die SED und ihre christlichen und liberalen Blockflöten an der Macht. Doch über die F.D.P. werde ich den Mantel des Schweigens hüllen, weil mir zu dieser Partei nur ausfallende Sudeleien einfallen.
Aber noch einmal zurück zu Kohl und seinem Verfallsdatum: David Mamet schreibt in seinem in Lettre International veröffentlichten Aufsatz ›Drei Nutzungen des Messers‹ folgendes:
»Bei den Stoikern steht geschrieben, dass der vortreffliche König unbewacht durch die Straßen gehen kann. Heute gibt unser Geheimdienst Millionen aus, wenn der Präsident mit seinem Gefolge einen Ausflug macht.
Mythologisch gesehen werden Geld und Bemühungen nicht dafür eingesetzt, das gefährdete Leben unseres Präsidenten zu schützen – wir alle führen ein gefährdetes Leben –, sondern um das Gemeinwesen Volk – denn alle Gewalt geht vom Volke aus – vor der Erkenntnis zu bewahren, dass dieses Amt eine Formsache ist, und dass trotz all unserer Versuche, ihm wirkliche Macht zu verleihen, (…) es nichts gibt außer uns. (…)
Man könnte die Erkenntnis der Stoiker umdrehen: Ein Land, das nicht merkt, dass seine Führung nur formal die Macht hat, das sich gegen diese Erkenntnis schützen oder sie unterdrücken muss, muss unglücklich sein.«1
Eine erschreckende Erkenntnis. Denn stellt euch mal vor, welch eine Leere Helmut Kohl zurücklassen wird, wenn wir ihn als reine Formsache erkennen würden. Das Ganze erinnert mich fatal an die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei. – Insofern allen einen gesegneten Sonntag. – Solingen, 21. Juni 1998
Literatur
Mamet, David: Drei Nutzungen des Messers. Über Natur und Zweck des Dramas. In: Lettre international : LI ; Europas Kulturzeitung 40 (1998).
Fußnoten
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Mamet, David: Drei Nutzungen des Messers. Über Natur und Zweck des Dramas. In: Lettre international : LI ; Europas Kulturzeitung 40 (1998). ↩︎