Die Zeit, das Rieseln und die Einbildung
Ach, wie die Zeit vergeht, sagt man, wenn man jemanden wieder trifft, den man lange Zeit nicht gesehen hat, und feststellen muss, dass die Zeit gerade dann besonders schnell vergeht, wenn man sich nicht sieht. Natürlich ist das bloße Einbildung. Die Zeit vergeht nicht schneller, sie vergeht überhaupt nicht, denn dann würde sie ja immer weniger werden. In Wirklichkeit vergehen wir. Wir rutschen auf ihr, der Zeit, wie auf einer Rutschbahn unumkehrbar in die Tiefe.
So weit so gut. Richtig rätselhaft wird die Zeit erst, wenn man Kinder zeugt. Plötzlich, durch einen simplen Lendenstoß, erschafft man Zeit neu, zeugt die neue, frische Zeit eines neuen Wesens. Und das ist keine bloße Einbildung.
Weil wir bei unserer Zeugung aber noch nicht da sind und uns daher nicht an den Anfang unserer Zeit erinnern können, meinen wir, die Zeit sei immer schon da. In Wirklichkeit sind wir mit unserer Zeit gleichzeitig da.
Geburtsdaten sind deshalb auch Schwindel. Sie stehlen uns unsere eigene Zeit und weisen uns einen Punkt auf einer imaginären Linie zu. Das alles ist Lüge. Denn diese Linie gibt es gar nicht.
Es gibt auch keinen Zyklus, so wie viele es uns weismachen wollen. Jeder Frühling, jeder Sommer, jeder Herbst, jeder Winter, jeder Neumond, jeder Vollmond: was haben sie mit unserer eigenen Zeit zu tun? Sie sind lediglich archaische Markierungen auf der gelogenen Kalenderlinie.
Unsere Zeit ist der Sand in der Sanduhr, die von einer knochigen Hand gehalten wird. Bei unserer Zeugung wird sie herumgedreht und läuft ab. Und wenn das letzte Körnchen fällt – kommt nichts mehr nach. Die Zeit läuft nicht einfach weiter, sie ist weg, vergangen, verronnen. Also vergeht die Zeit doch, und ich habe mich betrogen, als ich dachte, nur ich verginge und die Zeit bliebe.
Früher haben die Menschen die Zeiten vor ihrer Zeit in Generationen gemessen, denn sie wussten noch, dass jeder Mensch seine eigene Zeit hat. Sie konnten ihren Vater und Vatersvater angeben und so weiter bis in die Dunkelheit eines darum göttlichen Anfangs. Und jede Zeit war anders, die Zeit der Götter aber war die Traumzeit.
Wir dagegen messen die Zeit in Sekundenbruchteilen und Jahrmillionen. Wir haben allen Ereignissen ein Datum, einen Punkt auf der gelogenen Linie, zugewiesen. Wir haben alles in einer Zeit gesammelt, in einer Zeit, die keinem mehr gehört, die Niemandes Zeit ist.
Du stiehlst mir meine Zeit, sagt der, der seine Zeit längst verloren hat an die Zeit der Chefs, der Fabriken, der Büroräume. Du stiehlst mir meine Zeit, sagt der, dem man gar keine Zeit mehr stehlen kann, der im Gegenteil anderen alle Zeit schon längst gestohlen hat. Aber gewinnt der, der anderen die Zeit stiehlt, Zeit hinzu? Oder gilt auch für ihn das Gesetz des verrinnenden Sandes? Alles braucht seine Zeit. Alles verbraucht seine Zeit, doch das Geld verbraucht die Zeit der anderen und ist deshalb unsterblich. Wo aber bleibt der Sand der Uhr? Im Glas? Bleibt meine Zeit aufgespart? Und wenn ja: wo? Es ist schon ein Wunder. Ich weiß zwar nicht, wohin der Sand meiner Zeit verrinnt, kann aber neue Zeit zeugen. Kann Zeit spenden. Zeit schenken. Kommt die Zeit aus dem Nichts und geht dorthin zurück, damit die Gleichung stimmt? Oder bilden wir uns das Ticken und das Rieseln und das Sein und das Nichts nur ein? Wie unsere Altvorderen sich Kronos eingebildet haben. – Solingen, den 22. Juni 1998