Alle Gewalt geht vom Volke aus
Man übt sich in deutscher Betroffenheit und Entrüstung. Der Express beschreibt in Auflagen stärkender Weise das Geschehen:
»Doch dann kommen sie. Deutsche Hooligans. Gendarm Nivel wird mit einem Verkehrsschild niedergeschlagen, fällt zu Boden. Die Schläger umringen ihn, schlagen auf ihn ein. Der Helm des Beamten geht zu Bruch. Stiefeltritte treffen den Mann mitten ins Gesicht. Immer wieder. Bis die Schädelknochen brechen. Das Hirn verletzt ist.«
Der Kanzler sagt: »Das ist eine wirkliche Schande für unser Land.« Recht hat er, der Kanzler dieses schändlichen Landes. Der Bundestrainer ist überraschend opferbereit: »Mir wäre es lieber, wir hätten gegen Jugoslawien verloren, dafür aber wäre der Polizist noch gesund.« Fromme Wünsche sind ja so einfach. Außenminister Kinkel, der bei allen Themen außen vor steht, sagt: »Dieses Krebsgeschwür der modernen Fußballwelt muss ausgemerzt werden.« Volltreffer Klaus! Jenseits der Fußballwelt hat man ja auch noch nie etwas von rechtsradikalen Totschlägern gehört. Theo Waigel will, dass die Nazis wenigstens nicht vor laufender Kamera zuschlagen und fordert:
»Mein Appell an alle Vernünftigen im Inland und bei der WM heißt, diese Typen zu isolieren und sie von den Spielstätten fernzuhalten.« Und Gerhard Schröder philosophiert: »Milde ist hier nicht angebracht.«
Einzig und allein Egidius Braun, der DFB-Präsident, hat geweint und gesagt: »Das war kein Hooliganismus sondern Terrorismus.« Ein Fußballfunktionär spricht endlich einmal öffentlich aus, was Politiker hinter zynischen Floskeln seit Jahrzehnten verbergen. Wenn die Regierung gegen rechte Terrorgruppen so entschieden vorginge, wie in den 70er Jahren gegen die RAF, dann wäre das Problem schnell aus der Welt. Aber rechte Terroristen bedrohen eben nicht Politiker und Arbeitgeberpräsidenten, sondern nur Ausländer, Behinderte, Andersdenkende und jetzt eben auch Polizisten, die für uns alle den Kopf hinhalten müssen.
Halbwegs klare, aber noch tastend unsichere Worte findet Gerd Appenzeller im Tagesspiegel:
»Nein, etwas ist sehr schlecht gelaufen in diesem Land in den vergangenen Jahren, in denen die Hemmschwelle gegenüber kalter Brutalität und offenem Ausländerhass immer mehr sank. (…) Es ist absurd, über ‘Null-Toleranz-Konzepte’ gegen Graffiti-Sprayer zu diskutieren, und vor öffentlich sichtbarer, brauner Gewaltbereitschaft die Augen zu verschließen.«
Ob absurd hier der richtige Begriff ist? Und Gewaltbereitschaft ist auch so ein einschmeichelndes Wort, das mehr verdeckt als offenbart. Verrückte, hirnlose Chaoten, betrunkene Randalierer – irgendwie wird man sich wieder um die Wahrheit herumdrücken. Gebilligter Mord steckt in solchen verharmlosenden Worten. Aber seit der Geistig-Moralischen Wende von 1982 und der Wende in der DDR 1989 leben wir ja bekanntlich seit mindestens 6 Jahren in blühenden Landschaften. Was kümmert uns da die Realität?
Wer soll dieses selbstgesponnene Lügengewebe, in dem sich die Politiker, Journalisten und mit ihnen ein Großteil der Bevölkerung verfangen haben, zerreißen? Wer soll mit den rechten Terrororganisationen fertig werden? Etwa Schröder oder Schäuble? Eine beängstigende Erkenntnis weht uns aus Frankreich an. Die WM, mit deren Hilfe Kohl wieder ins Kanzleramt einziehen wollte, offenbart eine furchtbare Leere im politischen Deutschland.
Die Koalition hat sich übrigens am Dienstag geeinigt, welche Asylbewerber demnächst keine Sozialhilfe mehr bekommen sollen. Alle Gewalt geht eben vom Volke aus. – Solingen, 24. Juni 1998