Gott ist tot! Es lebe die Fuge!
Die Orgelwerke Bachs und die mächtige protestantische Orgelkultur sind weniger Lobpreis des Herrn, geschweige innere Zwiesprache mit Gott im Sinne der ›religio‹. Sie sind das unbewusste Eingeständnis, dass Gott in der Schöpfung abwesend ist, sie sind das artistische Fanal eines verzweifelten Atheismus, der kontrapunktische Schrei in einer Zeit der großen Desillusionierung nach dem 30jährigen Krieg. Bachs Fugen verkünden: Gott ist tot! Es lebe die Fuge!
Man vergleiche nur die leere Virtuosität Bachs und einiger seiner Zeitgenossen mit der einfachen Innigkeit der Gregorianik. In der mittelalterlichen Kirchenmusik herrscht eine vollkommene Einheit zwischen Form und Inhalt, zwischen verkündendem Wort und dem Wortklang. Die Bachsche Meisterschaft ist dagegen ein völliges Außer-sich-sein, eine Klangkaskade auf der Suche nach und der Flucht vor der ruhigen Gewissheit des Aufgehobenseins im christlichen Glauben.
Bis hin zum Renaissancemusiker Josquin regiert die Harmonie der beiden Sphären ›Diesseits‹ und ›Jenseits‹ in der Musik des christlichen Abendlandes; mit dem Bau der mechanischen Orgel zieht ein kalter mechanistischer Geist in die Musik ein.
Bezeichnenderweise verliert sich in Bachs Fugen die einzelne Stimme in den sich überschlagenden und ineinander gefügten Tonreihen. In der Gregorianik war die einzelne Stimme noch der vom menschlichen Körper erzeugte, vollständige und in seine Einheit heile Klang einer von Gott empfangenen unsterblichen Seele. In der mehrstimmigen Vokalkunst Josquins werden die verteilten Einzelstimmen der Sänger in einem Mysterium choraler Kommunion wieder harmonisch zusammengeführt. Der unpersönliche Bachsche Chor dagegen, dieses frühmoderne Massenphänomen, bekommt erst durch Beethovens Schlusschor in der Neunten Symphonie wieder einen humanen Charakter.
In der Kunst der Fuge kündigt sich die entseelte serielle Kunst des Industriezeitalters, das entfesselte Rasen des elektronischen Techno-Beats an. Die Fuge ist der melodische Leerlauf eines entfesselten Prometheus, der im wahrsten Sinne des Wortes alle Register zieht, um eine Gemeinde zu beeindrucken, die dem religiösen Erlebnis völlig entfremdet ist und Gott nur noch als entgrenztes Phantasma, als übermenschlich-unmenschliche Macht erkennen kann.
Äußerliche, mathematische und geometrische Prinzipien werden zur Richtschnur des Komponisten und entarten zum Selbstzweck. Das Monströse der Fugenkunst ist ihre intellektuell so leicht verständliche Struktur, ihre mathematische Genauigkeit, die nichts mehr offenbart, sondern nur noch die technische Beherrschung einer konstruktiven Kompositionskunst lautstark ausstellt. Die Fuge ist eine barocke Maschinenkunst, deren Hardware aus Holz und Metall und deren Software aus einer virtuell endlosen Programmschleife besteht. Die Atemlosigkeit des Gottlosen und Verzweifelten tönt aus diesen Werken unüberhörbar heraus. Den Sänger, der aus dem Vollen schöpft und aus seinem Inneren Atem holt, um mit seiner Stimme, dem Instrument der Seele, singend zu preisen und zu klagen, den suchen wir in Bachs Fugen vergeblich. – Solingen, 27. Juni 1998