Ungebundene Gedanken oder das Verschwinden der Intellektuellen
Die Gebundenheit des Denkens
Denken ist heute nicht mehr an gesellschaftliche Schichten, Gruppen oder Klassen gebunden. Ich meine mit Denken nicht ein fachspezifisches Wissen, welches bestimmten Berufsgruppen vorbehalten bleibt. Es geht um Gedankenkomplexe, um Systeme von Gedanken, die einen bestimmten Diskurs konstituieren. Dieses Fehlen eines klassen- und gruppenspezifischen Denkens hat Rückwirkungen auf eben diese Klassen oder Gruppen; insbesondere dann, wenn die Existenz einer Gruppe nur durch das gruppenspezifische Denken, nur durch einen klassenspezifischen Diskurs gesichert ist. Dies ist aber der Fall bei der Gruppe der Intellektuellen. Ihr Denken gibt es nicht mehr, weil es kein Denken mehr gibt, welches ihnen allein gehören würde. Denn diese Gruppe unterscheidet sich von der Gesamtgesellschaft nur durch ihren spezifischen, gedanklichen Diskurs. Dieser Diskurs, dieses Denken erhält durch seine Gebundenheit an die Gruppe der Intellektuellen, die es eigentlich erst konstituiert, seine Identität. Das intellektuelle Denken überträgt der von ihm gebildeten Gruppen eine Autorität, welche nichts anderes ist, als der ausschließliche Besitz eines Denkens, die solistische Performanz eines durch dieses Denken selbst zur Einheit gebrachten Gedankens. Sobald das Denken seine Gebundenheit an eine Gruppe verliert, entbehrt es der Einheit, es zerfällt in Gedanken, die von jedermann gedacht werden können. Aber auch die Gruppe verliert durch den Verlust eines nur ihr gehörenden Denkens ihre Einheit und zerfällt in Individuen, die beziehungslos zueinander und zur Gesellschaft stehen. Die Gedanken, die sie fortan denken, fügen sich nicht mehr zu einem Denken zusammen, sie werden beliebig.
Institutionalisierung und Inquisition
Das Verschwinden der Intellektuellen ist Folge des sich auflösenden intellektuellen Denkens. Ähnliches findet sich in der Geschichte zuhauf. Das Verschwinden einer gesellschaftlichen Schicht und das Zerbrechen des schichtenspezifischen Denkens gehen Hand in Hand. Nur stark institutionalisierte Gruppen überleben das Verschwinden ihres eigenen Denkens. So erscheint sogar heute noch die katholische Kirche als ein strukturiertes, fest gefügtes Gebilde, obwohl das christliche Denken schon vor langer Zeit seine Einheit und Gültigkeit verloren hat.
Kirche und Intellektuelle bilden zwei Extreme. Die Intellektuellen einerseits sind eine Gruppe, die sich ausschließlich aus ihrem Denken konstituiert, und deshalb zu keiner wirklichen Institutionalisierung fähig ist. Die Kirche dagegen gründete sich auf einem Denken, dem sie scheinbar schon in ihren Anfängen zutiefst misstraute, so dass sie sich sofort als Institution konstituierte. Das ungebundene Denken war der Kirche immer suspekt, weil es sie als Institution gefährdete. Sobald sie jedoch das Denken nicht mehr an sich binden konnte, griff sie zur Inquisition und begann, es zu verfolgen.
Die Macht des ungebundenen Denkens im Übergang
Die Intellektuellen als Träger des ungebundenen Denkens dagegen können nur in historischen Ausnahmesituationen wirkliche Macht ausüben, da Macht immer an Institutionen gebunden ist. Die Zerstörung von Institutionen in politischen und gesellschaftlichen Übergangsphasen ist eine solche Ausnahmesituation. In Deutschland kam es nach dem Zerfall des Kaiserreichs und dem verlorenen Weltkrieg, über die Wirren von Weimar und den institutionalisierten Verbrechen der Nazi-Zeit bis weit in die 60er Jahre hinein, als sich die zunächst als Provisorium definierte Bundesrepublik als Teilstaat endgültig konstituierte, zu einer lang andauernden Blüte der Intellektuellen. Seitdem jedoch verfiel das intellektuelle Denken, weil es Gemeinbesitz wurde, und die Intellektuellen verschwanden. Die Phase des Übergangs wurde in der DDR nie vollständig beendet, weil der Sozialismus selbst einen permanenten Übergang zum Kommunismus darstellt. Andererseits tendierte der SED-Staat paradoxerweise zur totalen Institutionalisierung der Gesellschaft. Aus diesem inneren Widerspruch schöpften die Intellektuellen der DDR ihre Kraft. Den Gipfel ihrer Macht erreichten sie als Bürgerrechtsbewegung in der Wendezeit am ›Runden Tisch‹. Diese Zeit zwischen der Wende und der Einheit wird daher von vielen DDR-Bürgern nicht nur im Rückblick als Zeit des Aufbruchs und der Freiheit wahrgenommen. Gleichzeitig ist die Wende in der DDR und die deutsche Wiedervereinigung der Schlussstrich unter einer fast einhundertjährigen Zeit des Übergangs vom Untertanenstaat zur bürgerlichen Demokratie.
Reformunfähigkeit und Sieg der Institutionen
Die Marginalisierung der DDR-Bürgerrechtsbewegung nach der Einheit Deutschlands ist der sichtbare Ausdruck für den totalen Sieg der staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen in Deutschland. Dies ist gemeinsam mit dem Verschwinden der westdeutschen Intellektuellen in den achtziger Jahren nach der ›geistig-moralischen Wende‹ Kohls ein weiterer schwerer Verlust. Denn der Triumph der Institutionen ist auch der Grund für den gesellschaftlichen Stillstand in Deutschland, der so treffend mit dem Begriff ›Reformstau‹ gekennzeichnet wird. Institutionen werden nicht aus sich heraus reformiert. Der Reform der Institutionen muss eine Reform des Denkens vorausgehen, welches nicht in diesen Institutionen geleistet werden kann. Nachgerade Hohn ist es daher, wenn sich mit der F.D.P. eine institutionalisierte Partei als Reformkraft gebärdet, die seit fast 30 Jahren an der Macht ist und die zu reformierenden Institutionen seit dem Ende der 60er Jahre kontinuierlich mit geschaffen hat.
Die Renaissance der Intellektuellen
Nur ein ungebundenes Denken jenseits der Institutionen kann die Gesellschaft reformieren. Und sobald sich dieses Denken vernehmbar zu Wort meldet und gesellschaftliche Relevanz entfaltet, werden wir, das ist ganz sicher, eine Renaissance der Intellektuellen erleben. – Solingen, 28. Juni 1998