Lettre International oder für einen Chinesenlohn arbeite ich nicht
Ich überlege seit Monaten, ob ich an dem Essay-Wettbewerb von Lettre International teilnehmen soll. Nicht dass ich etwas Tiefschürfendes zu der auserkorenen Preisfrage zu sagen hätte. Aber 50.000 DM für den Gewinner sind schon eine Menge Holz und ein gutes Argument, um sich ein paar Wochen zurückzuziehen und über die beiden Preisfragen nachzudenken: Die Zukunft von der Vergangenheit befreien? Die Vergangenheit von der Zukunft befreien?
Aber mit dem Schreiben ist das so eine Sache. Es ist anstrengend und zeitaufwendig, und hinterher gewinnt womöglich ein anderer. Und wenn ich mir so die Ausschreibungsbedingungen durchlese, dann kann ich mir ausrechnen, dass ich als Deutscher sowieso keine Chance habe, den ersten Preis und die 50.000 Deutschmark zu gewinnen. Denn die Geschäftsführung der Weimar 1999 – Kulturstadt Europas GmbH wollen ganz bestimmt Weltläufigkeit beweisen und sich mit einem Südamerikaner, Asiaten oder Franzosen afrikanischer Abstammung dekorieren. Denn die Preisfrage soll schließlich Weimar aus seiner selbstverschuldeten Provinzialität reißen. Und das ist auch legitim, immerhin geht es bei dem Spektakel ›Kulturhauptstadt Europas‹ ja nicht um philosophische Spitzfindigkeiten, sondern um Arbeitsplätze in der Gastronomie.
Da der 1.Preis also marketingstrategischen Überlegungen unterliegt, wird erst der 2. Preis möglicherweise dem besten Essay zuerkannt, falls er nicht aus Gründen der politischen Ausgewogenheit einem anderen in den Schoß fällt. Bliebe also für einen deutschen Teilnehmer höchstens noch der mit 20.000 DM dotierte 3. Preis übrig, denn die Nation der Dichter und Denker sollte ja auch auf dem Siegertreppchen vertreten sein. Und da stelle ich mir natürlich die Frage, ob ich als Wessi nicht dem Aufbau Ost zum Opfer falle.
Überhaupt muss ich feststellen, dass deutschsprachige Autoren besonders benachteiligt werden. In der Ausschreibung wird nämlich genau festgelegt, wie viel man schreiben muss, um überhaupt teilnehmen zu dürfen. So werden von Deutschen, Österreichern und Schweizern stolze 70.000 Anschläge verlangt. Wer Englisch, Französisch oder Spanisch schreibt, muss lediglich 64.000 abliefern. In Russisch genügen 62.000 und in Arabisch 54.000 Anschläge. Die Chinesen schließlich müssen lediglich 15.000 Schriftzeichen zu Papier bringen. Wenn das kein Skandal ist!
Umgerechnet auf den einzelnen Buchstaben sieht der mögliche Return on Investment dann folgendermaßen aus:
Sprache | Dtsch. | Engl., Frz., Span. | Russ. | Arab. | Chin. |
---|---|---|---|---|---|
1. Preis | 0,71 | 0,78 | 0,80 | 0,93 | 3,33 |
2. Preis | 0,43 | 0,47 | 0,48 | 0,55 | 2,00 |
3. Preis | 0,29 | 0,31 | 0,32 | 0,37 | 1,33 |
: Alle Angaben in DM/Zeichen
Wenn wir jetzt noch bedenken, dass ein deutscher Essay höchstens den 3. Preis bekommt und ein chinesischer vielleicht den ersten, so kann ein Chinese einen rund elfmal höheren Gewinn einstreichen. Für die gleiche Arbeit! Rechnen wir nun noch den Umtauschkurs DM/Hüan hinzu, dann dürfte ein Chinese mit seinem 1. Preis in China rund 41,3 Jahre länger auskommen als ein Deutscher mit seinem 3. Preis in den neuen Bundesländern. Und machen wir uns nichts vor: 20.000 Mark aufs Jahr umgerechnet ist gerade mal ein Auskommen knapp an der Grenze zur Sozialhilfe, die der Preisträger dann natürlich nicht mehr bekommen würde.
Verkehrte Welt! Nicht die Chinesen schuften für einen Stundenlohn von ein paar Pfennig, nein, wir rackern wie blöde für lau, und die machen den großen Reibach!
Wer also kühl kalkuliert und nicht blind drauflos schreibt, wird zu dem Schluss kommen, dass die Beantwortung der Preisfrage im Sudelbuch tausendmal besser aufgehoben ist als in Lettre International. – Solingen 4. Juli 1998