Die Preisfrage: Teil 1
Die Zukunft von der Vergangenheit befreien? Die Vergangenheit von der Zukunft befreien?
Das gestrige Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft ist mittlerweile Geschichte. Der Schmerz vergeht langsam und wir schauen wieder nach vorne. Welche Lehren ziehen wir für die Zukunft? Berti meint, die Mannschaft müsse nun wieder aufstehen. Recht hat er. Im Grunde ist das schon die ganze Antwort. Aber das waren erst 432 Buchstaben; es fehlen also noch 69.568, um an dem Weimarer Essay-Wettbewerb teilnehmen zu können. Deshalb muss ich etwas weiter ausholen.
Als ich die Preisfrage zum ersten Mal las, dachte ich: die machen einen Scherz, die wollen uns Philosophen auf den Arm nehmen. Philosophen antworten, wie wir aus des göttlichen Platos Dialogen wissen, auf jede noch so absurde Frage – mit einer Gegenfrage. Und sofort wurden einige auch Opfer dieses Pawlowschen Reflexes und fragten in verschiedenen Feuilletons tiefsinnig: Ist das überhaupt eine mögliche Frage?
Natürlich ist das nicht eine mögliche Frage, sondern gleich zwei, die sich überdies in eine epistemologische, eine moralische und eine teleologische Frage aufspalten lassen.
- Die Zukunft von der Vergangenheit befreien? Können wir das? Sollen wir das? Wollen wir das?
- Die Vergangenheit von der Zukunft befreien? Können wir das? Sollen wir das? Wollen wir das?
Ganz naive Denker würden überdies noch fragen: Und was ist mit der Gegenwart? Doch der Reihe nach:
Dass die Preisfrage(n) mögliche Fragen sind, ahnte ich zum ersten Mal vor rund 30 Jahren, als ich als kleiner Junge mit meinen Eltern vor dem Fernseher saß und eine Dokumentation über den Mord der Nazis an 6 Millionen Juden anschaute. Meine Mutter sagte damals: »Mein Gott, das muss doch mal ein Ende haben!«
Ich verstand damals nicht, was sie meinte, und dachte nur, sie wolle, dass man nicht mehr darüber berichten solle. Das entsetzte mich, denn ich war als Kind völlig davon überzeugt, dass man im Fernsehen die Wahrheit zeigen müsse. So wie man die Grausamkeiten des Vietnamkriegs oder die Hungernden in Biafra zeigte, so müsse man auch über die Nazizeit berichten.
Natürlich begriff ich, dass es Deutsche gewesen waren, die die Juden ermordet hatten. Aber ich brachte diese Tat, diese Vergangenheit weder mit meinen Eltern noch mit mir selbst in Verbindung. Es war geschehen, und deshalb musste man davon reden.
Für mich lag diese Zeit in ferner, dunkler Vergangenheit. Und ich wunderte mich, dass etwas, was so lange zurückliegt, als Belastung empfunden werden kann. Für meine Eltern jedoch war die Hitlerzeit und der Krieg gerade mal erst knappe 15 Jahre vorbei. Aber es war nicht die zeitliche Nähe, die sie bedrängte.
Sie wollten nicht mit einer Vergangenheit konfrontiert werden, die für sie einmal eine ganz anders geartete Gegenwart war. Das wurde mir erst sehr viel später klar. Meine Eltern weigerten sich, eine Vergangenheit anzunehmen, die sie so nicht erlebt hatten. Sie waren Kinder gewesen und hatten an den zünftigen Jugendveranstaltungen der Nazis offenbar ihren Spaß gehabt. Mein Vater war Hitlerjunge und meine Mutter im BDM. Nachts mussten sie in den Keller, und als die Bombenangriffe immer heftiger wurden, hat man meine Mutter mit ihrer Mutter aufs Land geschickt nach Württemberg. – An diese Vergangenheit in der bäuerlichen Idylle erinnerte sich meine Mutter immer gerne. Von der Judenvernichtung – so beteuerten sie immer wieder – hätten sie nichts gewusst. Die öffentliche Geschichte Deutschlands und ihre eigene, private klafften weit auseinander. Und jedes Mal, wenn sie mit dieser anderen Vergangenheit konfrontiert wurden, glaubten sie, der Lüge bezichtigt zu werden. Natürlich hatten sie Lehren aus ihrer Vergangenheit gezogen. Unter anderem: dass man wieder aufstehen muss. Ihr Widerwille gegen das ›Es war‹ der offiziellen anderen Vergangenheit, zeigt, dass es gar nicht so einfach ist, die Zukunft von der Vergangenheit zu befreien, denn unsere eigene, erlebte Vergangenheit klebt an uns wie Pech. – Und das hat die Nationalmannschaft gestern ja auch gehabt. – Solingen 5. Juli 1998