Russisch für Anfänger
Ich weiß nicht mehr, welcher Film es war, in dem das russische Roulette den Höhepunkt oder den so genannten Running Gag bildete. Jedenfalls war es in aller Munde als ich ins Gymnasium kam. Wahrscheinlich war es einer der damals so beliebten Italo-Western. Jedenfalls spielten wir die morbide Schlüsselszene immer wieder nach.
Erst später fragte ich mich, was das russische Roulette mit den Russen zu tun haben könnte. Aber ich fand keinen Zusammenhang. Klar, die Russen hatten eigentlich nie einen guten Ruf. Schließlich waren sie der Feind. Und dass die Russen ein ganz besonderes Völkchen sind, lernte ich dann später im Geschichtsunterricht. Wer hatte nicht alles versucht, Russland zu erobern und war dabei kläglich erfroren. Napoleon, Hitler: alle hat Väterchen Frost in die Schranken gewiesen.
Später lernte ich die russischen Schriftsteller kennen und schätzen. Und wieder fiel mir eine Besonderheit auf. Gute russische Schriftsteller haben ihr halbes Leben in der Verbannung in Sibirien oder im Gulag zugebracht. Für einen Schriftsteller von Weltgeltung wie Dostojewski war es geradezu Pflicht, mit Menschen aus allen Himmelsrichtungen des riesigen Reiches im Lager, dieser Schule des Lebens, zusammenzukommen und kulturellen Austausch zu pflegen. Die sibirische Verbannung war die erste multikulturelle Gesellschaft der Welt und hat Talente aus allen Teilen des zaristischen und sowjetischen Reiches nachhaltig gefördert. In den USA hat man stattdessen Universitätskurse in Creative Writing einrichten müssen, um so etwas ähnliches wie Literatur zu Wege zu bringen.
Auch auf dem Felde der Ingenieurkunst konnten die Russen einiges aufweisen. Meine Eltern staunten nicht nur über die immer wieder nachwachsenden sowjetischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Nach dem Krieg starrten sie wie gebannt auf die technologischen Heldentaten der Russen, die im Wettlauf zu den Sternen lange Zeit in Führung lagen. Sputnik und Gagarin waren Namen, die dem Westen die Schamesröte ins Gesicht trieben.
Seit Tschernobyl wissen wir aber, dass die Russen zur Hochtechnologie das gleiche Verhältnis haben wie zu einem Hochofen. Stählern wie Stalin trotzt der Sowjetmensch allen Gefahren des Atoms. Naja und Verschnitt ist normal, wie man in der Filmbranche so sagt.
Und jetzt komme ich auf die Überschrift zurück: Russisch für Anfänger. Deutsche Nachrichtensprecher werden vielleicht bald ein neues zungenbrechendes Wort lernen müssen: Tscheljabinsk. Dort haben die Russen nämlich seit den 50er Jahren hochradioaktiven Abfall in einen See gekippt. In rund hundert Metern Tiefe hat sich eine riesige ›Linse‹ aus hochradioaktiven Salzen gebildet. Diese Linse wandert und droht ganz Sibirien und das Nordpolarmeer zu verstrahlen. In diesem See wird die russische Mafia wahrscheinlich ihre Leichen los. Sie braucht ihnen bloß einen Stein ans Bein zu binden, alles andere erledigt die hochauflösende Linse im See.
Irgendwie typisch russisch waren auch die Versuche, die Ausbreitung der radioaktiven Linse zu stoppen. So hat man z. B. Betonplatten versenkt und überlegt, ob man den See und die Umgebung nicht dauerhaft einfrieren sollte. Väterchen Frost hat den Russen bisher ja noch immer geholfen. Aber im Sommer steigt das Thermometer in Tscheljabinsk nicht selten auf +30 Grad Celsius. Nun, jahrhundertelanger Wodkagenuss hinterlässt halt so seine Spuren.
Aber kehren wir vor der eigenen bzw. vor Angela Merkels Haustür. Es macht mich sehr misstrauisch, dass
unsere Umweltministerin in der SBZ aufgewachsen ist (Liegt in ihrem Gesichtsausdruck nicht etwas von der großen russischen Leidensfähigkeit?), dass
das einzige deutsche atomare Endlager sich ebenfalls drüben befindet und von der ostdeutschen Marionettenregierung gebaut wurde und dass
Sellafield, wohin wir unseren Atommüll zur Wiederaufbereitung liefern, ebenfalls am Wasser und noch dazu in Schottland liegt, wo bekanntlich sehr viel Whisky getrunken wird. Selbst der Gouverneur von Tscheljabinsk, also einer von diesen stahlharten Jungs, die wenn es heiß wird, auf ihre Datscha flüchten, befürchtet mittlerweile, dass sich die radioaktive Salzlinse am Boden des sibirischen Sees zur größten Umweltkatastrophe aller Zeiten ausweiten könnte. Vielleicht sollten die Russen Schulklassen oder Wehrpflichtige im See mit kleinen Eimerchen nach den Salzen tauchen lassen. Als Freiwillige, versteht sich, wie früher bei den Ernteeinsätzen.
Irgendwie ergibt der Begriff ›Russisches Roulette‹ doch so seinen etymologischen Sinn. – Solingen 15. Juli 1998