Preisfrage Teil 5: Die Vergangenheit in der Nase
Wenn ich in der Pathologie aufgepasst habe, dann ist der Sitz des Geruchsempfindens irgendwo im Stammhirn, also im verlängerten Rückenmark. Das ist vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie leicht zu erklären. Schon der geringste Wurm unter unseren Mitlebewesen kann riechen und orientiert sich mit Hilfe olfaktorischer Wahrnehmung in der feindlichen Umwelt.
Dort im Stammhirn sind alle Gerüche gespeichert, auf die wir im Laufe unseres Lebens mit der Nase gestoßen worden sind. Ein geschickter Präparator bräuchte nur mit Hilfe eines ägyptischen Einbalsamierungshakens unser Stammhirn durch die Nase hervorzuziehen, es kunstvoll zu konservieren und schon könnte alle Welt riechen, in welche Dinge wir unsere Nase gesteckt haben.
Anhand der Nase, das wusste schon Tristam Shandy, kann man einen Menschen besser beurteilen als anhand seiner anderen Körperteile. Der Volksmund wusste dies seit Jahrhunderten und hat dieses Wissens in seine Enzyklopädie, die Sprichwörter, aufgenommen. So kann man etwa sagen, dass einem die Nase seines Gegenübers nicht gefällt, weil er sie hoch trägt oder sie rümpft, d.h. den Stallgeruch der Basis nicht mehr wahrnehmen will. Wenn es ganz dicke kommt, hat man die Nase voll. Man kann eine feine Nase haben oder über die Spitze derselben nicht hinaussehen. Man kann immer der Nase nach gehen, bis man sich eine goldene verdient hat oder an ihr herumgeführt worden ist. Politiker binden ihren Wählern etwas auf die Nase, um selbige am Wahlabend vorn zu haben, und die investigativen Journalisten reiben ihnen ihre Lügen dann nach der Wahl genüsslich unter die Nase. Wer hat es noch nicht erlebt, dass einem jemand vor die Nase gesetzt worden ist, nach dessen Nase man dann tanzen musste. Und wenn es ans Verteilen geht, schnappt uns immer irgendjemand die besten Stücke vor der Nase weg und macht uns eine lange. Und wenn wir darüber dann erbost sind, ruft man uns zu, wir sollten uns an die eigene Nase fassen, so dass uns oft nichts anderes übrig bleibt, als uns selbige zu begießen. Doch die allerhöchste Gerechtigkeit sorgt immer wieder für einen Ausgleich: die Genasführten kriegen eins auf die Nase und die Hochnäsigen fallen auf dieselbe.
Und da sind wir mitten in unserer Preisfrage: ›Die Zukunft von der Vergangenheit befreien? Die Vergangenheit von der Zukunft befreien?‹ Wie oft ist es meine Nase, die mich wie eine außer Kontrolle geratene Zeitmaschine durch die Vergangenheit reisen lässt und mir himmlische Wonnen bereitet? Es gibt da ein Shampoo, dessen Geruch mich jedes Mal an die nach Äpfeln duftenden kastanienbraunen Haare meiner ersten Geliebten erinnert. Nicht allein, dass ich sie vor dem geistigen Auge sehe, nein ich spüre ihr sanftes Kitzeln und ihren betörenden Geruch in meiner Nase und brauche nur noch die Augen zu schließen, um auf offener Straße zu einem gefährlichen Verkehrshindernis zu werden. Manchmal, wenn ich an heißen Tagen an Mülltonnen vorbeigehe und mir ihr Duft in der Nase schmeichelt, fühle ich mich zurückversetzt in mein zweites Lebensjahr, als wir Urlaub in Holland am Meer machten und in einem Hotel wohnten, auf dessen Hinterhof, vor unserem Fenster, zahlreiche Mülltonnen herumstanden und vor sich hinstanken.
Manche Gerüche sind wie bedrohte Tierarten fast ausgestorben: Bohnerwachs zum Beispiel. Wer macht sich heute noch die Mühe, den Hausflur oder die Flure in Schulgebäuden zu bohnern. Fast verschwunden auch der Geruch der namenlosen Säfte aus diesen komischen Getränkespendern in Pommesbuden. Die viereckigen Glasbehälter waren immer zur Hälfte gefüllt, in der Mitte schoss eine Saftfontäne an die Decke und der Saft rann an den Seiten wieder herunter. Als ich letztens diesen Geruch und diesen Geschmack zufällig wieder fand, fühlte ich mich gleich in eine Zeit zurückversetzt, in der es für uns noch keine Cola, keine Fanta und kein Sprite gab. Ausgerottet auch der Geruch von verbleitem Superbenzin aus einer Zeit, als wir Autos noch toll fanden und uns an dem Chrom, dem Holzfurnier und den Weißwandreifen eines Opel Kapitäns kaum satt sehen konnten.
Da das Geruchsempfinden im Stammhirn sein Zuhause hat, geht der Sprung zurück in die Vergangenheit mit irrsinniger Geschwindigkeit vor sich. Kein langes Kramen in der lückenhaften Erinnerung des Großhirns: sobald der bekannte Duft in unserer Nase sitzt, schon sind wir mit Leib und Seele zurückversetzt in die Vergangenheit. Und unser kritisches Denken hat es schwer, uns wieder in die Gegenwart zurück zu holen. Wie soll ich mich von meiner Vergangenheit befreien, wenn sie mir so tief im Rückenmark steckt? Ich bin der Gefangene vergangener Gerüche. Immer noch und in alle Ewigkeit will ich ihre Haare riechen und den Bohnerwachs des Elternhauses.
Aber wie ist es mit der Zukunft? Die Zukunft ist geruchsneutral, sie hat noch keinen Geruch, außer vielleicht den des Wohnzimmers, in dem wir saßen, als wir im Fernsehen miterlebten, wie die Amerikaner auf dem Mond landeten. Aber auch das ist schon längst Vergangenheit. Am liebsten wäre uns natürlich eine Zukunft mit dem Duft der Vergangenheit. Früher als die Zeit noch langsamer verging, lebten vielleicht ganze Generationen umhüllt vom selben Duft: vom Geruch des Feldes und der Tiere ihres Landes, vom Geruch der wechselnden und wiederkehrenden Jahreszeiten. Doch wie ist es heute, wo die Gerüche mit der Hektik eines Musikvideos wechseln? Sie werden flüchtig, austauschbar und beliebig. Vielleicht werden kommende Generationen unter den schwirrenden, atemlosen Geruchskaskaden ihren Duft nicht mehr herauslesen können. Sie werden ohne den Duft der Haare ihrer ersten Geliebten erwachsen werden, ohne den Duft eines jahrelang immer wieder gebrauchten Reinigungsmittels, ohne den Duft einer Welt, die sich selbst gleich bleibt und in die man langsam hineinwachsen kann.
Wenn ich sie einmal wieder treffe, muss ich ihr Haar an meine Nase führen. Ob es immer noch nach dem Chlor des Schwimmbades und den Äpfeln ihres Shampoos duftet? – Solingen 26. Juli 1998