Sankta Simplitias
Eines meiner Lieblingsbücher ist der Simplicissimus von Grimmelshausen. Schon der Titel hat es mir angetan. Grimmelshausen bemüht den Superlativ der Einfältigkeit, um der Zeit des haarspalterischen Glaubensstreits den Spiegel vorzuhalten.
Wir Zeitgenossen, deren Hirn, wie man an den in Vitriol eingelegten Exemplaren sehen kann, zigmal gefaltet ist, können uns Einfalt nur noch als Comicstrip vorstellen. Und selbst dort weht, wie man an Pumba und Timon sieht, schon der laue Wind der zynischen Vernunft. Wir sind derart hochgradig informiert, problembewusst und abgeklärt, dass unsere neuronalen Origamifaltungen uns mittlerweile hinderlich werden. Wo Simplicissimus in einfältigem Einklang mit der heiligen Schrift jaja und neinnein gesagt hätte, murmeln wir mit staatsmännisch-metaphysisch düstrer Miene ein Jein ins Auditorium.
Daran sind die Experten schuld, die seit Mitte der sechziger Jahre Politik durch Gutachten ersetzen. Und da wir die sorgfältigsten Gutachter der Welt besitzen, geht nichts mehr. Es ist nämlich seit Alexander eine Binsenweisheit, dass es mehr als hinderlich ist, alle Tatsachen und Wirkungszusammenhänge genauestens zu kennen. Erstens gibt es dann keine Scheinlösungen mehr, die durch konsequente Anwendung wenigstens irgendetwas bewirken würden, und zweitens bleibt unter lauter Scheinlösungen zumeist auch keine wahre Lösung mehr übrig. Und wenn sie doch übrigbleibt, ist sie unrealisierbar, wie jede einzig wahre Lösung. Man könnte sich die teuren Expertengremien eigentlich ersparen und gleich denjenigen Lösungsvorschlag als richtigen bezeichnen, der völlig undurchführbar erscheint. Aber zurück zu Alexander. Dieser mazedonische Königssohn tat, was ein postmoderner Grieche nie vermocht hätte: er schlug den gordischen Knoten aus vertrackten Sachzwängen, die von Interessensverbänden jahrhundertelang mit verbiesterter Geduld festgezurrt worden waren, einfach durch und eroberte halb Asien.
Nichtstun oder Allestun, das ist die Alternative, die uns heute noch bleibt. Und wer traut es sich schon zu, alles Notwendige gleichzeitig zu tun? Schröder jedenfalls nicht, denn was er heute vorgestellt hat, zeichnet ihn als großen Jein-Sager aus. Auf jede Reporterfrage hat Schröder ein beherztes und erzseriöses Jein parat. Verständlich, dass er dieses Jein am liebsten in einer großen Koalition dem Volk einprägen würde, denn dann könnte er für sich, je nach Bedarf mal das eher jasagende Jein oder das neinsagende Jein reklamieren und wäre immer fein raus.
Wenn ich mir die ach so komplexe Welt so anschaue, bin ich immer wieder überrascht, wie frisch und forsch die Unternehmensberatungen an die Arbeit gehen. Die konzipieren Strategien und erstellen Maßnahmenpläne für schier unlösbare Aufgaben als wäre die Rettung eines maroden Konzerns ein Kinderspiel. Und nur um diese Forschheit und Einfalt zu kaschieren, versehen sie ihr Tun mit unverständlichen, anscheinend den angloamerikanischen Businessdialekten entlehnten Wortkombinationen, die sie dann, um ihre Zungen im Beratungsgespräch zu schonen, zu einsilbigen Kraftausdrücken abkürzen. Bei Unternehmensberatern bin ich mir nie sicher. Sind das alles Einfaltspinsel, die unheimlich gescheit tun, oder mehrfach Gefaltete, die nur einfach zielstrebig auf die Lösung hinarbeiten. Denn während ein Politiker sich bis zum Sankt Nimmerleinstag um die Lösung der Probleme herumdrücken kann, platzt den Gesellschaftern irgendwann der Kragen, und sie schmeißen die Berater raus.
Ob genügend Kragen für einen Rausschmiss der Regierung geplatzt sind, werden wir am 27. September erfahren. Und dann bin ich mal gespannt, ob man den gordischen Knoten nun durchschlägt oder eine Kommission einsetzt, die mit besorgt gefaltetem Gehirn, die Fussel im Knoten zählt, bis wieder vier Jahre ins Land gegangen sind. – Solingen 20. August 1998