Das Polit-Thermometer oder Wann werden die Deutschen endlich mündig?
Wenn man sich die Fieberkurven der Demoskopen so anschaut, dann fragt man sich doch: Was geht bloß in den Köpfen derjenigen vor sich, die schon wieder Kohl wählen wollen, falls in diesen Köpfen überhaupt etwas vor sich geht? Denn wenn man die Linien verlängert, so wird Kohl die Wahl doch noch gewinnen. Ich saß gestern fassungslos vor dem Fernseher, starrte erschüttert auf die Grafiken der Forschungsgruppe Wahlen und fragte mich, ob wir im Deutschen nicht das Missing Link vor uns haben, nach dem die Anthropologen seit Jahrzehnten vergeblich in der afrikanischen Steppe suchen.
Zwar ist der Wunsch, auf der Seite der Sieger zu stehen, ein hominides Verhalten, das in der frühen Steinzeit oder beim Mobbing im Büro möglicherweise sinnvoll ist. Aber bei einer geheimen Wahl? Vielleicht glaubt der deutsche Wahlbürger, man könne es ihm irgendwie an der Stirne ablesen, wo er sein Kreuzchen gemacht hat. Immerhin hinterlässt man ja seine Fingerabdrücke auf dem Wahlzettel.
Außerdem würde die Abwahl eines Kanzlers das empfindliche seelische Gleichgewicht unseres Volkes durcheinanderbringen. Eine Abwahl Kohls wäre ein noch nie da gewesener Akt der Selbstentfesselung. Eine Regierung nicht zu bestätigen, das ist anrüchig! Das ist Königsmord! Das ist ein zweiter 20. Juli!
Die Geschichte lehrt: Ein deutscher Kanzler wird nicht abgewählt! Um den letzten Reichskanzler der Weimarer Republik loszuwerden, bedurfte es einer jahrelangen, konzertierten Aktion aller unserer Nachbarn. Und unser erster Bundeskanzler konnte von seinen eigenen Freunden erst dann in den politischen Ruhestand geschoben werden, als die lichten Momente des 87jährigen so selten wurden, dass er die Verschwörung der wilden 60jährigen nicht mehr bemerkte. Brandt hätte trotz Guillaume noch Jahre im Amt bleiben können, aber dieser Exilant war ja nie so recht der aufrechte Deutsche, der bis zur Mumifizierung an der Macht festtrocknet. Wer wollte 1982 Kohl als Kanzler? Niemand? Alle wollten Schmidt. Nur konnte man ihn ohne die SPD nicht kriegen. Folglich wird Kohl Kanzler bleiben, bis ihn Schäuble meuchlings und hinterrücks mit seinem AOK-Shopper überfährt.
Die Nibelungentreue der Deutschen zu ihren Kanzlern ist unerschütterlich. Es gibt nur einen Ausweg. Das Mindestalter für einen Kanzler muss auf 70 Jahre erhöht werden. Dann muss der politische Gegner wenigstens nicht allzu lange warten, bis er die eingeschrumpelten Überreste eines deutschen Kanzlers auf der Regierungsbank zusammenkehren kann. Nur durch die konsequente Vergreisung des Kabinetts kann man die Zyklen der politischen Erneuerung unseres Landes verkürzen. In unserer dynamischen Welt können wir uns keinen jungen, gesunden Kanzler mehr leisten. Stellt euch vor, Schröder wird Kanzler und lebt dann noch 30 Jahre!
Aber schaun wir mal. Vielleicht schaffen es die Deutschen ja endlich einmal, einen demokratischen Regierungswechsel hinzubekommen! Auch wenn es weh tut, irgendwann muss man doch erwachsen werden.
– Noch 8 Tage… – Solingen 19. September 1998