In der nächsten Woche sind wir schlauer
Der Fortschritt ist unaufhaltsam. Jeden Tag wächst unser Wissen. Morgen werden wir erfahren, was der Präsident der Vereinigten Staaten vor der Grand Jury ausgesagt, wann er sich durch die Haare gefahren, wann er die Nase gerümpft, wann er sich echauffiert hat.
Die Wellen schlagen hoch. Darf man das, fragen sich viele. Aber was soll diese Frage in einem Land, in dem der Prozess gegen O.J. Simpson live übertragen wurde. Die Clinton-Lewinsky-Affäre ist längst eine Affäre des amerikanischen Volkes geworden. Der Prozess des An-die-Öffentlichkeit-Zerrens ist nicht mehr aufzuhalten. Wenn es im Weißen Haus eine Video-Überwachung gibt, werden wir sicher auch noch das Band mit Miss Lewinskys Blow-Job ansehen müssen.
Der ›Spiegel‹ hat in der letzten Woche dem Präsidenten ›politischen Höhenrausch‹ bescheinigt:
»Die mit Dollarmilliarden jonglierenden Wall-Street-Händler in Tom Wolfes New Yorker Romansatire ›Fegefeuer der Eitelkeiten‹ empfanden sich schlicht als ›Meister des Universums‹; wenn schon solche Leute, vergleichsweise Zwerge, Allmachtsphantasien hegen – wie sehr muss dann erst bei einem US-Präsidenten derselben hedonistischen Generation das Gefühl entwickelt sein, sich im Oval Office schlechthin alles leisten, also auch eine junge Frau zu einseitigen Sexualverrichtungen heranziehen zu können, wie Lastwagenfahrer sie von Autobahn-Nutten erwarten?«
Es geht nicht mehr um das Privatleben eines Präsidenten, sondern um die Frage, wo Hybris und Selbstüberschätzung anfangen. Was hat dieser Präsident alles vor seinem Amtsantritt versprochen: eine Reform des Gesundheitswesens, die Förderung des Umweltschutzes und vieles mehr. An seinen eigenen Plänen gemessen, hat er total versagt. Aber warum? Weil er sich lieber im erotischen Höhenrausch befand als zu regieren? Oder weil ihm die Macht zur Durchsetzung seiner Versprechen fehlte?
Vielleicht sind die Abgründe, die der Starr-Bericht aufdeckt, tiefer und erschreckender als es auf den ersten Blick erscheint. Waren die Alpha-Männchen-Spiele von Clinton eine Ersatzbefriedigung für den Verlust tatsächlicher Macht? Und ich meine hier nicht die Schwierigkeiten durch die republikanische Mehrheit in Kongress und Senat. Ich meine einen fundamentalen Machtverlust der konstitutionellen Demokratie.
Clinton und mit ihm das Präsidentenamt wäre dann nur noch die omnipotente Fassade, die die völlige Machtlosigkeit in einem System verdecken soll, das nach eigenen Gesetzen funktioniert. Und das amerikanische Volk, dessen Verkörperung der Präsident ist, ist nur noch fähig, seine Macht in der Erniedrigung seines Repräsentanten auszuleben. So wie Clinton sich an der Macht über eine Praktikantin und seiner eigenen Zügellosigkeit berauscht hat, so berauscht sich nun das Volk an seiner eingebildeten Macht über den Präsidenten und seinem zügellosen Voyeurismus. Und das Urteil, das das amerikanische Volk sprechen wird, spricht es letztlich über sich selbst.
Die Tragödie von Dallas wiederholt sich als Farce. Kennedy, der seine Macht gegen das System ausüben wollte, fiel der wirklichen Macht dieses Systems zum Opfer. Clinton fällt dem Volk anheim, weil er das Volk nicht mehr über seine Machtlosigkeit hinwegtäuschen kann.
Nicht Clinton oder Starr demontieren das Präsidentenamt. Das Amt war schon lange zur bloßen Inszenierung von Macht verkommen. Die wahren Machthaber haben längst parallel zum konstitutionellen Machtgefüge ihre eigene Oligarchie errichtet.
Vier Stunden Fernsehen, die über das Schicksal eines Präsidenten und den Weg eines ganzen Volkes entscheiden. Aber wie gesagt: in der nächsten Woche wissen wir mehr.
Und nächsten Sonntag um 23.00 Uhr werden wir auch wissen, wer mit wem in den nächsten vier Jahren über das im Vergleich zu Amerika doch recht kleine Deutschland regieren wird.
— Noch 7 Tage… – Solingen 20. September 1998