Die Große Illusion
So hieß ein Film von Jean Renoir aus dem Jahr 1939 über den ersten Weltkrieg. In seinem Buch ›Mein Leben und meine Filme‹ schreibt er zu diesem Film:
»Ein Schauspieler hat die Rolle eines Fischers zu spielen. Um Realismus bemüht, möchte er auf alle Schminke verzichten. Er zieht in einen kleinen bretonischen Hafenort und fährt sogar mit den Fischern nach draußen aufs Meer hinaus. Sein Teint ist getönt von der echten Salzluft des Ozeans. Wenn man ihm auf der Straße begegnet, kann man ihn nicht von den angestammten Fischern unterscheiden. Nach dieser sorgsamen Vorbereitung spielt er seine Rolle. Bestimmte Szenen werden in der Bretagne auf einem richtigen Boot gedreht. Der Regisseur lässt selbst in einer richtigen Sturmszene unseren Mann nicht doubeln. Das Ergebnis: der Schauspieler wird, wenn es ihm an Genie fehlt, wie ein regelrechter Schmierenkomödiant wirken.«
Der SPD scheint etwas ähnliches passiert zu sein mit ihrem Kanzlerkandidaten. Da haben sie einen in der Wolle gefärbten Sozi, der idealtypisch sich aus bescheidenen Verhältnissen kommend hochgearbeitet hat, die Ochsentour durch die Parteigremien überstanden hat und nun, wo er die Rolle seines Lebens spielen soll, wie ein Schmierenkomödiant wirkt.
Warum eigentlich? Am fehlenden Genie kann es nicht liegen; das ist in der Politik sowieso eher störend. Liegt es an der Komplexität der Rolle? Immerhin muss Gerhard Schröder einen an den Interessen des kleinen Mannes orientierten Kapitalistenfreund mimen, der mit visionärer Innovationsfreude alles beim Alten lässt und aus einer liberalen Grundhaltung heraus für eine harte Law-and-Order-Politik eintritt, als wahrer Freigeist in Gewerkschaft und Kirche solide verwurzelt ist und ohne Irgendjemandem zu nahe zu treten, die Umwelt retten, den Sozialstaat sichern und den Haushalt sanieren will.
Nein, auch daran kann es nicht liegen. Das Paradoxe und Absurde gehört zur Politik wie das Bier zum Oktoberfest. Ich glaube, Gerhard Schröder wirkt deshalb so unglaubwürdig, weil er als siegessicherer und starker Macher seit Monaten von einer Großen Koalition redet. Wer sich so häufig hinter einer Großen Koalition versteckt, glaubt entweder nicht mehr daran, eine regierungsfähige Mehrheit erringen zu können, oder er fühlt sich seinem potentiellen Koalitionspartner, den Grünen, weder intellektuell noch machtpolitisch gewachsen. Gerhard Schröder hat scheinbar eine Höllenangst vor den Grünen. Könnte doch nach einigen Monaten überdeutlich werden, dass die SPD den Grünen programmatisch nichts entgegenzusetzen hat. Schröder fürchtet Fischer wie der Schauspieler den hinter den Kulissen soufflierenden Regisseur fürchtet. Er fürchtet den grünen Marathonmann, der, egal wie schnell Schröder versucht zu denken, immer sagen kann: wir sind schon da. Und diese Angst spürt der Wähler, weshalb der Vorsprung der SPD mehr und mehr zusammenschmilzt.
Ich finde, so lange ich auch suche, keinen taktisch überzeugenden Grund für dieses Gerede über eine Große Koalition. Es hat für die SPD nur negative Folgen. Es wertet Schäuble noch mehr auf. Es treibt den kleinen Parteien Wähler zu, was die Grünen nicht nötig haben, da sie über ein solides Stammwählerpotenzial verfügen und daher nur der FDP dient oder der PDS. Und es offenbart die Siegesungewissheit und/oder die Siegesangst der Sozialdemokraten.
Langfristig betrachtet dürfte eine Große Koalition sogar noch verheerendere Auswirkungen für die SPD haben. Warum soll ich SPD wählen, wenn ich dann doch CDU bekomme? Eine SPD in einer Großen Koalition macht sich überflüssig und sinkt weit unter die 30-Prozentmarke. Ist also ein Wahlsieg der SPD und der so bitter notwendige rot-grüne Neuanfang in Deutschland nur eine Große Illusion?
– Noch 5 Tage… – Solingen 22. September 1998