Früher war das immer so
Es ist Sonntag, der 27. September 1998, achtzehn Uhr. Im Fernsehen sagt der Moderator: »Die Wahllokale sind nun geschlossen, und wir können die Prognose verkünden. Hier ist sie!« Die Grafik wird eingeblendet, doch nichts passiert. Schnitt. Lange Gesichter bei der Forschungsgruppe Wahlen. Alle sitzen vor strahlend blauen Bildschirmen. Windows NT hat sich verabschiedet. Konfusion. Was ist passiert? Hätte man doch auf Linux setzen sollen? Der Moderator weiß nicht, wohin er jetzt schalten soll. Hektische Betriebsamkeit hinter den Kulissen. Wo klemmts? Ist ein Kabel locker? Ein Schalter verstellt?
Ich schalte um. Doch auf allen Programmen steht den Moderatoren der Schweiß auf der Stirn, hasten im Hintergrund Techniker durchs Bild, versuchen die Computerspezialisten, in ein seltsam blaues Leuchten getaucht, in ihren Systemen zu retten, was zu retten ist.
Dann nach zwanzig Minuten steht es fest: Ein Hacker hat die Computersysteme der Meinungsforscher geknackt, die Prognosen gelöscht und Viren eingeschleust, die die Hochrechnungsprogramme mit sinnlosen Daten von der ARD-Wetterstation auf Rügen füttern und damit völlig lahmlegen.
In den Festzelten der Parteien herrscht große Ratlosigkeit, jeder erklärt sich vorsichtig und provisorisch zum Sieger, dankt den politischen Freunden für ihren unermüdlichen Einsatz. Auf schwankendem Boden und mit zuckenden Gesichtsmuskeln werden alle nur denkbaren Ergebnisse und Koalitionen diskutiert. Die Moderatoren werfen haufenweise ihre Notizen in den Papierkorb, weil die dort aufgeschriebenen Fragen plötzlich furchtbar dümmlich wirken. Die Politiker verzetteln sich ebenfalls, wissen sie doch nicht, ob sie einen Sieg feiern oder eine Niederlage einzugestehen haben. In den Redaktionen laufen die Telefone heiß. Hellseher, Kartenlegerinnen, Wünschelrutengänger und Geistheiler bieten ihre Dienste an, erklären mal die einen, mal die anderen zum Sieger. Im Internet kursieren die ersten Verschwörungstheorien in den Newsgruppen. Rentner denken rührselig an die letzten Wahlen in der Weimarer und an die ersten in der Bonner Republik zurück: »Wisst ihr Kinder«, sagen sie zu ihren Enkeln, »früher war das immer so. Da haben wir tagelang auf das Ergebnis gewartet.« Und bei den Enkeln verfestigt sich das Bild, das sie von ihren Altvorderen haben. Müssen schrille Typen gewesen sein.
Deutschland fällt für eine Nacht der Anarchie anheim. Die Spannung, die schon mit der ersten Hochrechnung um 18.23 Uhr vorbei gewesen wäre, hält bis zum nächsten Morgen an. Erst dann kann der Bundeswahlleiter mit einem Taschenrechner in der Hand, kurz bevor er einen Nervenzusammenbruch erleidet, ein sehr vorläufiges amtliches Zwischenergebnis verkünden.
Der Hersteller des Taschenrechners, mit dem der Bundeswahlleiter den Sieger der Bundestagswahl 1998 ausgerechnet hat, bringt die Sonderedition ›Wahlrechner‹ auf den Markt und verkauft innerhalb von zwei Wochen dreizehn Millionen Stück.
– Noch 1 Tag… – Solingen 26. September 1998