Klärungen und Häutungen
So eine Wahl klärt vieles. Zum Beispiel die Fronten, die seit einigen Jahren von der allgemeinen politischen Soße zugekleistert wurden. So ertönt in der Mailingliste der Philosophen ›PhilWeb‹ seit letztem Montag wieder der wüste Warnruf: »HErr schütze uns vor dem aus den östlichen Steppen hereinbrechenden Linksintellektualismus!« Seit 1982 habe ich diesen Ruf in der geistig-moralischen Wüste nicht mehr vernommen. Scheinbar macht sich bei den akademischen Philosophiehistorikern und den modebewussten Postmodernen die Angst breit, es würde erneut mit dem Hammer philosophiert.
Ein Mitglied der Mailingliste ›PhilWeb‹ sieht sich doch tatsächlich gezwungen, die Zunft der Fondsmanager in Schutz zu nehmen. Vor ein paar Tagen wäre der leiseste Zweifel an den Hohepriestern des real existierenden Kapitalismus, die sich für uns alle so unbarmherzig aufopfern, nachgerade unvorstellbar gewesen. Und folglich hätte auch niemand sich durch ihre Verteidigung blamieren müssen.
Aber nicht nur bei den Denkern tut sich was, auch bei den Dichtern. Die Bundestagswahl war gerade gelaufen, da schlägt sich der Leiter von ARDonline, Hermann Rotermund, der in den Kreisen der Netzdichter liebevoll hero genannt wird, mit seiner ganzen Autorität auf die Seite der Netzautoren, die in einem Protestaufruf gegen seine Rechtsauffassung protestiert hatten, wonach der Betreiber einer Website für alle Links auf seiner Seite juristisch verantwortlich sei. Und der Sieg der Netzautoren ist mitnichten heros Niederlage, vielmehr bleibt er in der Häutung von der Raupe zum Schmetterling sich selbst treu.
Überhaupt sehe ich überall Begeisterung: Wann hat sich schon einmal eine Partei so glückselig auf die Oppositionsrolle gestürzt, wie CDU und CSU es gerade tun? Und wann hat je ein Generalsekretär der FDP den Wählern mit vor Glück brechender Stimme dafür gedankt, dass sich die FDP nun in der Opposition erneuern, häuten, in einen Schmetterling liberaler Sonntagsgedanken verwandeln darf? Und wann war Theo Waigel zuletzt so entspannt? Theos Erleichterung kann ich ja nachvollziehen. Wer versteckt schon gern tagtäglich schwarze Löcher in seinen vielen schwarzen Kassen? Wer schaut schon gern jeden Tag in gähnende Haushaltsabgründe? Da wird es beim Beschwindeln der Wähler mit der Zeit selbst dem trinkfestesten Bayern schwindelig. Nur der Pastor Hinze trägt pflichtbewusst sein Joch, ohne zu klagen. Doch der wusste ja noch nie, wo es lang ging.
Und Gerhard Schröder? 21 Stimmen Mehrheit reichen aus und schon zieht er grüne Socken an, kann sich Fischer als Außenminister vorstellen. Ob Joschka Fischer jedoch zu seinen Auslandsterminen joggen wird, statt zu fliegen, konnte mir in der grünen Parteizentrale niemand bestätigen.
Wo soviel Aufbruch ist, will ich mich nicht versagen. Seit der Wahl, vielleicht hat es sogar jemand bemerkt, versuche ich mich im Sudelbuch der neuen Rechtschreibung zu bedienen. Leser in Schleswig-Holstein mögen mir das verzeihen. Und die Übrigen mögen gnädig auf die Fehler sehen, die vor der Bundestagswahl noch keine waren. – Solingen 30. September 1998