Lasst Blumen sprechen, pflanzt Erika!
Die EU – nein das ist nicht die griechische Vorsilbe für ›schön‹, wie in Eudämonie, Euterpe, Eucharistie oder Eunuch, sondern die Abk. für Europäische Union und bezeichnet den Staat, in dem wir leben. Nun ist Europa schön, wer wollte das bestreiten! Vom Hochgebirge bis zum Meer hat Europa fast alle Landschaftsformen, die man sich denken kann, zu bieten. Sogar Karibikinseln und das eiskalte Grönland zählen irgendwie dazu.
Die Kritiker der EU, also die bayrischen Ministerpräsidenten, zeigen dagegen mit dem Finger immer nur auf Brüssel, weil dort die EU-Verwaltung sitzt und mit dem Geld bayrischer Steuerzahler z. B. Not leidende Speditionen unterstützt, die Rinder, Schweine, Schafe und anderes Getier kreuz und quer durch Europa transportieren, mit den lebenden Kadavern die EU-Außengrenze überschreiten und anschließend die halbverreckten Tiere in die EU importieren, womit sie ein Vermögen scheffeln.
Herr Stoiber vergisst, und das muss man ihm vorhalten, dass alles, was in der EU passiert, auf einem Gesetz beruht. Und bei den vielen Gesetzen, die die EU verabschiedet und den vielen Sprachen, in die die Gesetze übersetzt werden müssen, können sich doch schon einmal Flüchtigkeits- und Übersetzungsfehler einschleichen, weshalb man also Nachsicht mit dem polyglotten Amtsschimmel haben muss.
Die EU hat aber auch andere Gesichter, schönere. Sie handelt z. B. schön. So reisen etwa Legionen von Entwicklungshilfeministerinnen und Entwicklungshilfeministern, Staatssekretärinnen und Staatssekretären, sowie Kohorten von Fachleuten in die weggeschwemmten Länder Mittelamerikas, wo sie ganze Staffeln von Hilfshubschraubern requirieren, um sich das Elend aus der Nähe anzuschauen und prompte Hilfe zu versprechen. Und die Verzweifelten in Nicaragua und Honduras sind ja auch so dankbar dafür, dass ihnen die Hubschrauber statt seelenloser Trinkwasseraufbereitungsanlagen, abgelaufener Medikamente und EU-subventionierten Milchpulvers echte mitfühlende Menschen bringen. Das ist doch tätige Nächstenliebe, wenn nach dem französischen Entwicklungshilfeminister mit seinem französischen Dolmetscher und seinem französischen Staatsminister, dem spanischen Entwicklungshilfeminister mit seinem spanischen Staatsminister und dem britischen Entwicklungshilfeminister und seinem britischen Dolmetscher und seinem britischen Staatsminister nun auch die deutsche Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul mit ihrem deutschen Dolmetscher und ihrem deutschen Staatsminister den gleichen kranken und erschöpften Mann fragt, wie es denn mit der Lebensmittelversorgung klappe.
Die EU zeigt aber nicht nur nach außen ein menschliches Gesicht, sie bemüht sich auch, die zwischenmenschlichen Beziehungen in Europa selbst zu verbessern. Die Herzen der Menschen sollen wieder zueinanderfinden. Und was eignet sich dafür besser als Blumen, wie z. B. die Erika, die auf zahllosen Gräbern die Verbundenheit der Toten mit dem Erdreich symbolisch zum Ausdruck bringt?
Ohne zu kleckern, greift die EU beherzt in ihre Geldtöpfe und beauftragt die kreativsten Köpfe der Werbung damit, die europäischen Eriken, Tulpen und Narzissen gegen die asiatisch – afrikanisch – amerikanische Blumenkonkurrenz zu verteidigen.
Lasst Blumen sprechen! meint die EU und hat bitter Recht. Diesem Schlachtruf kann ich mich nur anschließen: Erfreut doch eure Frau, eure Geliebte, eure Mutti mal wieder mit einem bunten europäischen Blumenstrauß nach Euronorm EN 4711 und bringt auch der Omma und dem Oppa ein bisschen Erika aufs Grab, das hebt die miese Herbststimmung!
Und ganz persönlich möchte ich Frau Wieczorek-Zeul zurufen: Zeigen Sie den vom Schicksal Geschlagenen in Mittelamerika unser aller Mitgefühl – mit echten europäischen Tulpen und erweisen Sie den vom Schlamm lebendig Begrabenen in unser aller Namen die Ehre: pflanzen Sie deutsche Erika in Nicaragua. No pasaran! – Solingen 13. November 1998