5 Jahre tot in der eigenen Wohnung
Was soll man schreiben an einem Tag, an dem im Radio und im Fernsehen gemeldet wird, dass ein dreiundvierzigjähriger Mann fünf Jahre lang tot in seiner Wohnung gelegen hat, dass fünf Jahre lang sein Plastikweihnachtsbaum Tag und Nacht im Fenster gebrannt hat, ohne dass dies einem Nachbarn oder seiner Mutter, die fünf Jahre für ihn die Miete gezahlt hat, aufgefallen wäre. Fünf Jahre lang klebten die Nachbarn Zettel an die Türe eines Toten, auf denen Sie sich darüber beschwerten, dass er wieder einmal nicht die Treppe geputzt hat. Und in fünf Jahren bekommt dieser Mensch so wenig Post, dass der Briefkasten noch nicht einmal voll war. Selbst die Adressverlage haben ihn vergessen.
Was soll ich an einem solchen Tage schreiben? Vielleicht ein Gedicht, das ich vor Jahren an einem Tag schrieb, an dem es genauso kalt und neblig war wie heute, und das mir heute wieder einfiel, als ich durch Radio und Fernsehen daran erinnert wurde, wie verdammt einsam man sterben kann.
Heut ist ein Tag, an dem es nicht wunderlich wäre,
stünde plötzlich ein Engel, irgendeiner, vor uns
und richte die Frage in unser kaltes Gesicht.
Heut ist ein Tag, an dem die Leiber der Dinge
in einem Schleier aus Nässe und Luft verschwinden.
Heut ist ein Tag, an dem der, der da sitzt
unter’m Dach des Pavillons im Park,
uns noch stummer anredet als an Tagen des Lichts.
Solingen 18. November 1998