100 Tage Rotgrün
Die Genossen aus der Baracke und ihre grünen Koalitionspartner haben in diesen Tagen eine Menge Arbeit, denn aus allen Zeitungen, Radios und Fernsehgeräten schallt ihnen Häme, Schimpf und Ironie entgegen, die gesehen, gehört und gelesen sein will. Die mediokre Mediokratie zieht Bilanz und zwar deftig: 100 Tage Rotgrün – ein telegenes Spektakel auf nationalen und internationalen Schauplätzen.
Eigentlich ließ sich die neue Ära in Bonn ganz gut an – für die Medien. Die meisten Zeitungen konnten ihre Auflage steigern, verschreckte Zuschauer ließen sich in Wirtschaftssendungen erklären, auf welch unerklärliche Art und Weise ihr Einkommen in Zukunft schrumpfen wird, und an Schlagzeilen fehlte es Journalisten in den ersten hundert Tagen nun wirklich nicht. Die Medien taten natürlich ihr Bestes, um diese Hausse weiter anzutreiben. Jedem kleinen Politiker, der in Bonn irgendeinen Posten inne hat, wurde von eilfertigen Journalisten ein Fettnäpfchen untergeschoben, in der nie trügerischen Hoffnung, der Interviewte könnte hineintreten und man selber so eine lautstarke Debatte über neue Steuern, Atomausstieg oder Staatsbürgerschaft entfachen.
Das Publikum wurde derweil immer ungeduldiger. Man war zwar daran gewöhnt, dass RTL mindestens zwei Wochen vorher damit beginnt, einen haarsträubend schlechten Spielfilm mit reißerischen Trailern anzukündigen, und das Fernsehvolk wartete anfänglich auch geduldig auf den Anbruch der neuen Zeit. Doch als man nach drei Wochen immer noch nicht in der neuen Zeit angekommen war, erkannte man, dass aus dem großen TV-Roman eine Endlos-Soap mit dem Titel ›Grüne Zeiten, roten Zeiten‹ geworden war. Und immer wenn man glaubte, jetzt käme der Durchbruch, erfand der paranoide Drehbuchautor neue Kabalen.
Die ersten 100 Tage von Rotgrün verraten uns also, wie die ersten fünf Folgen einer Soap, die Fährnisse und Verwicklungen der nächsten 1000 Tage, der nächsten 1000 Folgen. Der junge Wilde Trittin wird immer wieder tragisch am alten Bösen scheitern, weil Schröder sich nicht entscheiden kann, ob er zu den Guten oder den Schlechten gehört. Naumann wird noch Jahre am Eisenman feilen. Lafontaine wird immer wieder, wenn Langeweile sich breit macht, wie ein Maschinengott aus heiterem Himmel herunterfahren und Zinssenkungen und Steuererhöhungen fordern. Und immer wieder wird man die Ausländer integrieren, ihnen zwei oder drei Staatsbürgerschaften versprechen. Das Bündnis für Arbeit wird immer wieder auf den Weg gebracht, eine Runde durch den Kanzlergarten drehen und mit hehren Worten auseinandergehen. Immer wieder werden wir uns fragen: Wer hat denn nun mit wem? Und warum? Und immer wieder werden sie sich über den Trümmern des Koalitionsvertrages wieder vertragen, nachdem das Tafelsilber zum x-ten Male zerschlagen oder verscherbelt wurde. Und immer wieder wird sich Oma fragen: Wo ist denn eigentlich der Joschka?
Wenn der Leser nun glaubt, dass die Macher ihr Pulver in den ersten hundert Tagen schon verschossen hätten, so irrt er. Noch stehen zahllose Charaktere in den Kulissen, die nur darauf warten, endlich ihren Auftritt zu haben. Noch starren die Sozis und Grünen von der Basis fasziniert und schweigend nach Bonn. Das Spektakel geht erst richtig los, wenn die zweite Garde ins Spiel kommen. Spätestens in der zweiten Staffel.
Die ersten hundert Tage – sie haben aber auch eine verstörte Medienlandschaft zurückgelassen. Der Unterschied zwischen Sein und Schein, der den Medien solange eine dienende Funktion in der Demokratie zuwies, ist von diesen endlich überwunden worden. Nun aber, nach ihrer Befreiung vom Joch des Seins streunen sie umher wie herrenlose Hunde, jaulen des Nachts den Mond an und lecken sich fortwährend den eigenen Schwanz. – Wie soll man da ordentlich Bilanz ziehen? – Solingen 1. Februar 1999