Auf dem Weg zur Volkspartei?
Sind die Grünen in der Krise?
Das rot-grüne Reformprojekt sei gescheitert, sagte Jürgen Trittin und revanchierte sich damit bei Gerhard Schröder. Denn der Bundeskanzler hatte sich vor Wochen mehr Fischer und weniger Trittin gewünscht und damit sein Mobbing gegen den ungeliebten Koalitionspartner auf die Spitze getrieben. Streit in der Koalition, Streit in der Partei und seit Lafontaines Rücktritt auch Streit beim großen Koalitionspartner: seitdem sie an der Regierung beteiligt sind, werden grüne Politiker ihres Lebens nicht mehr so richtig froh. Es scheint, als seien die Grünen aus dem Tritt gekommen. Führende Politiker der Grünen fordern daher eine Strukturreform der Partei. Strukturen, die in der Opposition noch nützlich gewesen seien, so die Befürworter der Reform, taugten nichts, wenn sich die Partei in der Regierung befindet. Aber so richtig voran kommt die grüne Selbstreform nicht. Kritiker frotzeln bereits: Wie soll eine Partei Staat und Gesellschaft reformieren, die sich nicht einmal selbst reformieren kann?
Ob eine Reform der Strukturen allein die von vielen herbeigewünschte Krise der Grünen beheben kann, ist mehr als fraglich. Befinden sich die Grünen überhaupt in einer Krise? Oder beruhen die Irritationen der letzten Monate nicht vielmehr auf der Tatsache, dass die Grünen sich auf dem Weg zur Volkspartei befinden, dies aber noch nicht bemerkt haben oder bemerken wollen?
Die erfolgreichste Oppositionspartei aller Zeiten
Eine Volkspartei, so die gängige Definition, muss mindestens 30 Prozent der Wähler an sich binden. Betrachtet man die Wahlergebnisse der Grünen in den letzten Wahlen, so ist der Weg dorthin noch weit. Und man könnte sogar den Eindruck bekommen, dass die sinkenden Wahlergebnisse eher darauf hindeuten, dass die Grünen zwar auf dem Weg zur Volkspartei sind, ihn aber in der falschen Richtung verfolgen.
Macht es dann überhaupt Sinn, von einer grünen Volkspartei zu sprechen? Betrachtet man die Geschichte der Grünen, so muss man feststellen, dass es die erfolgreichste Oppositionspartei aller Zeiten war. Die Grünen, als das ökologische Gewissen der Republik, haben als Oppositionspartei mehr als jede andere Partei erreicht.
Die Grünen wurden zwar als Anti-Partei gegründet, waren aber immer Partei im eigentlichen Wortsinn. Sie haben in ihrer Anfangszeit diejenigen Personen politisch vertreten, die für eine ökologische Politik eintraten. Und das waren vor 20 Jahren eher wenige. Seither hat aber nicht nur das ökologische Bewusstsein breiter Bevölkerungsgruppen zugenommen, auch die Gesetzgebung und das politische Handeln ist ›grüner‹ geworden.
Ist die Zeit reif für eine grüne Volkspartei?
Mittlerweile hat sich vielerorts die Erkenntnis durchgesetzt, dass Ökologie nicht eine parteipolitisch zu vereinnahmende Sonntagsmoral ist, sondern sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen und politischen Handelns durchdringen muss, wenn sich der Mensch seine Lebensgrundlagen auf diesem Planeten nicht selbst zerstören möchte. Dieser Bewusstseinswandel eines großen Teils der Bevölkerung ist auch ein Erfolg der grünen Partei. Und genau hier wird es schwierig. Wer sämtliche Strukturen der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Verwaltung einer ökologischen Revision unterziehen will, muss nicht nur bereit sein, ein ungeheures Reformpaket zu schultern, er muss dafür Mehrheiten finden, die nur dann möglich sind, wenn ein großer Teil der Bevölkerung sich in allen Bereichen des Lebens von dieser Partei angemessen vertreten fühlt. Das heißt aber nichts anderes, als dass Bündnis 90/Die Grünen eine Volkspartei mit einem Stimmenanteil von 30 Prozent werden müssen, um dem Anspruch gerecht zu werden, den sie zur Zeit als Minderheitenpartei an sich selbst stellen und den man an eine regierende Öko-Partei auch stellen muss. Die Zeit ist reif für eine grüne Volkspartei.
Das rot-grüne Reformprojekt ist deshalb gescheitert, weil es nicht möglich war, sich den Status einer Volkspartei durch eine Koalition mit den Sozialdemokraten zu erschleichen. Die SPD war und ist scheinbar nicht Willens, die ökologische Orientierung der Grünen mit diesen gemeinsam in mehrheitsfähiges Regierungshandeln umzusetzen. Die Grünen müssen daher in Zukunft mehr sein als das reine Gewissen der ökologischen Vernunft, das dem großen Regierungspartner, sei es nun die SPD oder in Zukunft die CDU, auf der Schulter hockt und diesem ständig grüne Delegiertenbeschlüsse ins Ohr raunt. Sie müssen für alle Politikbereiche ökologisch vernünftige Konzepte und Programme entwickeln, die ohne Hilfe anderer Parteien in unserer Republik mehrheitsfähig sind. Das aber heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass die grüne Schrägstrich-Partei eine Volkspartei werden muss.
Personenkult oder Identifikation?
Zu einer Volkspartei gehört im Zeitalter der Medien eine Identifikationsfigur, die nach Innen und Außen die oft divergierenden Strömungen in einer Volkspartei glaubhaft vertreten kann. Das ist zwar Personenkult, aber ohne Personen wird die Identifikation mit ehrgeizigen politischen Zielen vielen Wählern erschwert. Joschka Fischer, der zurzeit zwar keine grüne Außenpolitik betreibt, ist in diesem Zusammenhang für die Grünen ein Glücksfall. Denn er macht das, was man von einer Volkspartei erwartet: eine Politik, die von der Bevölkerung mitgetragen wird und zeitweise sogar das Lob der Opposition findet.
Wo liegt das grüne Godesberg?
Die Grünen haben ihr Godesberg noch vor sich, nur weiß noch keiner so recht, wo es liegt. Die Entscheidung, ob sie sich auf den mühsamen Weg zur ökologisch handelnden Volkspartei begeben oder zu einer in ihrer Existenz immer wieder gefährdeten 5-Prozent-Partei schrumpfen, ist noch nicht gefallen. Im Grunde haben sie aber keine Wahl, denn sie vertreten nicht die gleichbleibenden Interessen einer sich fortdauernd neu rekrutierenden Minderheit wie die FDP, die als letzte Klassenkampfpartei in Deutschland die egoistischen Wirtschaftsinteressen von Großverdienern vertritt. Die Grünen sind zur Zeit der politisch noch schwächliche Arm einer notwendigen und in letzter Instanz unvermeidlichen ökologischen Modernisierung unserer Gesellschaft. Die Menschen werden diesen Weg gehen, widerwillig und zögerlich. Vor allem aber erwarten sie eine kompetente Führung. Die Grünen können von diesem Wunsch profitieren, sie können aber auch, so absurd dies klingen mag, von der ökologischen Entwicklung der Gesellschaft überholt werden. – Solingen 18. März 1999