Reden und Schweigen
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. So lautet ein altes Sprichwort, dass nicht mehr besagen will, als: Reden ist die Fortführung des Schweigens mit anderen Mitteln. Denn häufig, so muss man sich wohl eingestehen, könnten wir uns auch noch das letzte Bisschen Rede abgewöhnen und gleich ganz schweigen; denn auch schweigend würden wir kaum weniger sagen als wir sowieso von uns geben.
Dennoch reden wir weiter, denn das Schweigen mag sich vielleicht für einen Philosophen ziemen, mir aber stünde es schlecht zu Gesicht, würde ich mich hier im Sudelbuch seitenlang ausschweigen. Überhaupt ist Schweigen heutzutage nicht opportun. Wer schweigt, hat nichts zu sagen in einer Welt, in der mehr als je zuvor geredet wird. Wer schweigt, wird erst recht überhört und verliert an Bedeutung. Das kann sich zu einer handfesten Existenzkrise ausweiten! Wenn z. B. ein Politiker tagelang kein Interview geben konnte, weil ihn niemand hören wollte, dann lässt er das Gerücht verbreiten, er sei für eine Mehrwertsteuererhöhung und schon wird er mindestens zum Parteivorsitzenden zitiert, wo er sich wieder herausreden muss. Und wer endgültig nichts mehr zu sagen hat, der kleidet sich wenigstens schamhaft in dünne durchsichtige Worthülsen.
Reden schafft Arbeitsplätze nicht nur in den Medien. Die gesamte Zunft der Psychologen wäre ohne unablässiges Reden über das Unsagbare schon längst verstummt. Reden ist erste Bürgerpflicht, denn nur wer wortgewaltig mitredet, kann sich einbilden, gehört zu werden. Von wem auch immer. Denn ob bei dem ganzen Reden noch irgendjemand zuhört, möchte ich doch lautstark bezweifeln.
Reden schafft Vertrauen, fördert den Konsens. Wo geredet wird, da wird noch nicht geschossen. Diplomaten können auch noch dort reden, wo andere keine Worte mehr finden. Sogar mit Milosevic wird noch geredet, nur mit Michael Jackson kann sogar Thomas Gottschalk nicht mehr sprechen, der ist in Sphären vorgedrungen, die nie ein Mensch zuvor gesehen.
Doch bevor ich wieder vom Thema abschweife und übers Reden statt übers Schweigen rede, mache ich lieber mal eine Pause, schweige und warte gespannt darauf, was der Leser wohl zu diesem Gerede sagen wird. – Solingen 22. März 1999