April, April
Es ist gar kein Krieg. Alles nur Show, alles nur Film. Reingefallen! Milosevic ist gar kein Kriegsverbrecher, der Völkermord ist nur eine Ente, die Nato-Bomben waren Special-Effects aus dem Computer und die Flüchtlinge sind Statisten.
Den meisten wäre es wohl recht, wenn sich heute die Führer der Welt vor die Kameras stellten und uns laut ins Gesicht lachen würden. Ja, den meisten wäre es mehr als recht, einem multinationalem Aprilscherz aufgesessen zu sein. Doch stattdessen ruft man – wenn nicht heute – dann vielleicht schon morgen: April, April! Bodentruppen sind doch notwendig.
Seit einigen Tagen diskutiere ich über den Natoeinsatz mit Freunden und Bekannten per E-Mail und öffentlich in einer Mailingliste. Seit Tagen lasse ich Tag für Tag die Sondersendungen von heute und Tagesschau über mich ergehen. Seit einer Woche lese ich Zeitungen, in die ich schon seit Monaten keinen Blick mehr geworfen habe. Der Krieg in Jugoslawien und die Angriffe der Nato haben die geistigen Eingeweide der Deutschen bloßgelegt. Das muss man nutzen, schon die alten Germanen haben in der Leber von Opfertieren gelesen.
Man nehme zwei Hosen, gestrichen voll…
…und vermische deren Inhalt mit 30 Jahren bundesrepublikanischem Betroffenheitsjargon sowie einer gehörigen Prise Antiamerikanismus, und man erhält als Vorspeise den krausen Eintopf der aktuellen Diskussion über den Krieg in Jugoslawien.
Es scheint so, als hätten die Natobomben das intellektuelle und moralische Gerüst zerstört, auf dem nicht nur die Linke in der Nachkriegszeit diskutiert hat. Man glaubte, durch ein entschlossenes und rituell immer wieder beschworenes ›Nie wieder!‹ das Böse der beiden Weltkriege ein für alle Mal gebannt zu haben. In typisch deutscher Selbstüberschätzung hatten wir die Schuld an zwei Weltkriegen so verinnerlicht, dass wir glaubten, wir bräuchten bloß auf ewig allem Militärischem abzuschwören, und der Welt wäre geholfen. Sämtliche Konflikte, so redeten wir uns ein, seien durch Entwicklungshilfe und Sozialarbeiter zu lösen. Die Gewalt schien, da wir ihr abgeschworen hatten, an die Ränder der zivilisierten Welt gedrängt zu sein: nach Ruanda, nach Lateinamerika, in den Nahen und Fernen Osten. Nun aber stellen wir fest, dass wir nicht Jesus sind und es kaum etwas genutzt hat, dass wir uns so in unsere Schuld für das größte Verbrechen der Menschheit verbissen haben.
Krieg als Mittel der Politik…
…war jahrzehntelang praktisch tabu in unserem Land. Denn ein Krieg zwischen der Nato und dem Warschauer Pakt war das schlichtweg Undenkbare. Die totale Vernichtung, mit der er uns bedrohte, machte ihn zu einem Ereignis jenseits einer Grenze, die niemand überschreiten wollte. Das Bekenntnis ›Nie wieder Krieg!‹ war daher ein Leichtes. Es war das einmütige Bekenntnis aller. Und diese große Übereinstimmung ermöglichte sogar ein Gespräch zwischen Pazifisten und Militärs. Denn es war nur ein Streit über den richtigen Weg. Das Gespenst des Krieges war durch die atomare Abschreckung in Sicherheitsverwahrung, ein Ausbruch war unmöglich. Und das Böse, verkörpert durch Hitler, war gebannt durch Wirtschaftswunder, Ostpolitik und die europäische Vereinigung. Dass Völkermord und Vertreibung nicht durch Deutschlands bedingungsloser Kapitulation aus der Welt geschafft waren, wollten wir einfach nicht wahrhaben.
Nun fliegen deutsche Tornados Bombenangriffe auf Belgrad, und die Grenzen zwischen Politik und Krieg vermischen sich wieder. Und als wolle man durch gebetsmühlenartiges Wiederholen einen Zauberbann sprechen, redet man immer noch von einer politischen Lösung, die man erreichen will. Man redet verzweifelt um den Krieg herum, er soll weiterhin jenseits der Politik stehen. Doch alles was man damit erreicht, ist, dass man diesen Krieg vermutlich verlieren wird.
Verhältnismäßigkeit der Mittel
Die Nato spielt ihre ganze technologische Überlegenheit aus und muss dennoch hilflos zusehen, wie das Morden am Boden weitergeht. Den Völkermord an den Kosovaren bringen die Serben notfalls mit bloßen Händen zu Ende.
Auch die Amerikaner haben ihr Trauma: Vietnam. Ein schneller Krieg aus der Luft, mit medienwirksamen High-Tech-Waffen, dazu sind sie in der Lage. Doch zu einem langwierigem Bodenkrieg sind sie scheinbar nicht mehr bereit. Wenn man bei diesem Krieg die Verhältnismäßigkeit der Mittel kritisieren will, so sollte man der Nato nicht vorwerfen, zu hart zuzuschlagen. Nein, man sollte sie fragen, warum sie aus Angst vor dem Krieg daneben schlägt.
Die Milosevic-Benchmark
Die Nato feiert bald ihr 50-jähriges Bestehen und will eine neue Strategie beschließen. Milosevic ist sicherlich ein guter Prüfstein für diese neue Strategie, man sollte ihn zu einer Benchmark machen. Nur wenn die Nato Milosevic zum Einlenken bringt, kann sie sicher sein, auch andere weniger brutale Diktatoren zu besänftigen.
Ach ja, heute bekam ich eine SPAM-Propaganda-Mail aus Jugoslawien. Ein Aufruf: ›Hört mit dem Töten unschuldiger Menschen auf!‹ – Alles natürlich in Großbuchstaben und in Englisch. Gemeint war – wohlgemerkt die Nato, nicht etwa die Killerkommandos der Serben im Kosovo. Man wird aufgefordert, bei seiner Regierung eine Einstellung der Angriffe zu fordern und den Aufruf weiter zu versenden. Vielleicht sollte ich ihn an Peter Handke weiterleiten. Der unterschreibt bestimmt.
title: Serbien du Land der Ursprünglichkeit
Unser Handke ist ja ganz begeistert von Serbien, dem Land der Ursprünglichkeit. Dort trinken die Leute noch ursprünglich reinen und voll aromatischen Tee, kauen versonnen an selbstgebackenem Brot, rauchen unverschnittenen Tabak. Dort schauen sich die Männer keine schmutzigen Bilder im Internet an, dort greift man sich eine Muslimin aus Bosnien oder dem Kosovo und treibt es ursprünglich, kraftvoll und gesund. Und trotzt das kleine Serbien nicht mit subversiver Ursprünglichkeit jetzt den High-Tech-Bomben der Nato und schächtet mit ursprünglichen Messern die Albaner im Kosovo? In dieser Ursprünglichkeit, fernab von westlicher Verderbtheit fühlt sich der Dichter wohl und schreibt seine Oden. – Solingen 1. April 1999