ÖPNV mit Vollkasko
Nie wieder werden wir auf dem Weg zur Arbeit uns vom sanften Schaukeln der Schwebebahn in einen erquickenden Schlummer wiegen lassen. Nie wieder werden wir versonnen durch die regennassen Scheiben der Schwebebahn auf die schmutzigen Wellen der Wupper schauen und von fernen Urlaubszielen träumen. Nie wieder werden wir über die verunsicherten Gesichter unserer ausländischen Gäste lächeln können, wenn wir sie zu einer Schwebebahnfahrt begleiten.
Es ist unfassbar! Wuppertal, das Bergische Land, Deutschland – ja die ganze Welt – ist geschockt und paralysiert, starrt fassungslos auf die Scherben eines modernen Mythos! Der Untergang der Titanic war dagegen eine Marginalie, die gescheiterte Apollo 13 Mission letztlich der Triumph menschlichen Improvisationsgenies über die Unbilden des luftleeren Raumes, und die explodierende Challenger der zwangsläufige Unglücksfall einer übertechnisierten Welt, den man – warum muss man auch unbedingt nach den Sternen greifen – bei uns im Bergischen Land innerlich gefasst registriert hat. Ja selbst Tschernobyl und der über Jugoslawien abgeschossene Tarnkappenbomber konnten unser aller Urvertrauen in den von Maschinen veredelten Alltag nicht erschüttern.
Natürlich wissen wir alle, dass Flugzeuge vom Himmel fallen, dass Autos von der Fahrbahn abkommen, dass ICEs an Brückenpfeilern zerschellen, dass Alpentunnel sich in ein flammendes Inferno verwandeln, dass Aufzüge ungebremst in die Tiefe stürzen, dass Fernsehgeräte explodieren und Wohnzimmer in Brand stecken, dass in Chemieanlagen giftige Gase austreten, dass sich Menschen in der Badewanne die Haare föhnen, dass Häuser durch Gasexplosionen zerstört werden, dass Kühlanlagen für Muscheln, Krebse und Frischfleisch ausfallen, dass Handys Hirntumore auslösen, dass Badende von Motorbooten zerfleischt werden, dass Leute bei der Benutzung eines Pater Nosters zwischen dem ersten und zweiten Stock zerquetscht werden. Doch nun ist es passiert! Das Undenkbare ist geschehen, die Hoffnung der Menschheit auf den Segen der Technik ist endgültig dahin! Die Wuppertaler Schwebebahn ist in die Wupper gestürzt; vier Menschen sind tot und viele Passagiere zum Teil schwer verletzt.
Seit fast 100 Jahren rattert die Schwebebahn durchs Tal, nie ist etwas passiert, nie ist ein Mensch ernsthaft zu Schaden gekommen. Der Sprung Tuffis, des kleinen werbewirksamen Elefanten, aus einem Waggon in die Wupper war das bisher größte Unglück in der glorreichen Geschichte der Schwebebahn. Und Tuffi hat sich dabei noch nicht einmal ernstlich verletzt, wie die Geschichte zuverlässig zu berichten weiß. Der stählerne Lindwurm, der Gipfel bergischer Ingenieurkunst galt als das sicherste Verkehrsmittel weltweit, ÖPNV mit Vollkasko sozusagen. Bis heute.
Doch wie jede Medaille so hat auch die Gedenkmünze für diesen traurigen Tag zwei Seiten. Unternehmen, die seit Jahren Millionen mit teuren Kursen gegen die Flugangst verdienen, wittern schon ein neues lukratives Geschäft. Und denken wir auch an die vielen Werbetexter, die in Zukunft mit ihrer Wortakrobatik uns und der Welt die Schwebebahn als das sicherste Verkehrsmittel der Welt verkaufen werden. Herr Oberbürgermeister, ich stehe Ihnen zur Verfügung! – Solingen 12. April 1999