»Die Würde des Menschen ist unantastbar«
So zitierte Johannes Rau, nachdem er zum Bundespräsidenten gewählt worden war, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und fügte hinzu, dass es dort in Artikel 1 des Grundgesetzes eben nicht heißt, ›die Würde der Deutschen ist unantastbar‹. Dies ging dem Bayrischen Ministerpräsidenten Stoiber dann doch wohl zu weit. Er fühlte sich von Raus Interpretation des Grundgesetzes dermaßen provoziert, dass er die Rede Raus als schwach und wenig innovativ bezeichnete.
Nun muss man wissen, dass sich die CSU von Anfang an nur ungern auf den Boden des Grundgesetzes gestellt hat. Eigentlich war sie schon immer gegen unsere Verfassung. So haben vor fünfzig Jahren, am 8. Mai 1949, alle sechs Abgeordneten der CSU im Parlamentarischen Rat gemeinsam mit den Radikalen von Links, den Kommunisten der KPD, gegen das Grundgesetz gestimmt.
Wer die Herkunft der CSU und ihr innovatives Verhältnis zum Grundgesetz kennt, der wird sich nicht gewundert haben. Das offene Bekenntnis zum Grundgesetz, das der künftige Bundespräsident völlig überraschend gleich in seiner ersten Rede ablegte, muss auf einen CSU-Mann wie ein rotes Tuch wirken. Und so ist Stoibers Kritik an Raus Rede nicht nur ein Affront gegen die Person Johannes Rau, sondern vielmehr ein verklausulierter Protest gegen eine Verfassung, in der nirgendwo die Rede von der Würde der Bayern ist. Und der gestrige 50. Jahrestag der Verkündigung des Grundgesetzes war natürlich ein willkommener Anlass, um auf diesen eklatanten Missstand einmal aufmerksam zu machen.
Verwunderlich ist nur, dass ein Mann, dessen Motto ›Versöhnen statt spalten‹ lautet, gleich zu Anfang seiner Präsidentschaft die Anhänger der Christlich Sozialen Union rüde vor den Kopf stößt, indem er Artikel 1 des verflixten Grundgesetzes zitiert. Wollte Johannes Rau damit ein Zeichen setzen, womöglich ein parteipolitisches? Wollte er den Bajuwaren zurufen, bei der nächsten Landtagswahl doch bitteschön eine Partei zu wählen, die mit dem Grundgesetz nicht überkreuz ist? Oder galt sein Ordnungsruf vielmehr unseren Brüdern und Schwestern in den neuen Bundesländern, die es mit Artikel 1 GG ebenfalls nicht so genau nehmen? Wird der Anekdotenerzähler Rau uns vielleicht alle überraschen und ein politischer Präsident werden? – Hoffen wir’s!
Doch zurück zur CSU und ihrem Verhältnis zur Verfassung. Einen Vater des Grundgesetzes – man sucht ihn in der CSU ebenso vergebens wie in der PDS, der Nachfolgeorganisation von SED und KPD. Wobei ich nicht behaupten will, dass alle Wähler der CSU gegen das Grundgesetz sind, manche kennen es gar nicht. Doch das will Johannes Rau ja nun scheinbar ändern.
Wie soll man sich also der CSU gegenüber verhalten? Ich finde, wir sollten uns den weisen Ausspruch von Frau Prof. Dagmar Schipanski zu Herzen nehmen, die da sagte: Ich grenze mich von dieser Partei ab, diese jedoch nicht aus. Glücklicherweise kam noch nie eine demokratische Partei in Bayern in die Verlegenheit, mit der CSU auf Landesebene eine Koalition bilden zu müssen.
Konrad Adenauer, die Mutter aller Bundeskanzler, soll damals vor 50 Jahren gesagt haben, die Verkündigung des Grundgesetzes sei für ihn der erste freudige Tag seit 1933 gewesen. Vielleicht sollten die Herren Enkel und Großenkel in der CDU, wenn sie denn einmal in den Reihen der CSU einen Kanzlerkandidaten suchen, den Kanzlerkandidatenkandidaten auf sein Verhältnis zur Verfassung ansprechen. Denn wie heißt es so schön im Kriminalistendeutsch: Bei einem hinreichenden Anfangsverdacht, erfolgt eine Anfrage beim Bundesamt für Verfassungsschutz. – Solingen 24. Mai 1999