Anderswo im Kosovo
Wer erklärt uns die neue Außenpolitik
Wer sprachverliebt ist, könnte auf der Zeile ›anderswo im Kosovo‹ ein philosophisches Lehrgedicht aufbauen, wenn diese Form der Erbauung nicht schon zu Wielands Zeiten aus der Mode geraten wäre. Anderswo im Kosovo. Fern von hier. Das Gegenteil des friedlichen, multikulturellen Hier und Jetzt. Und zum Schluss nach neun Strophen könnte man dann emphatisch fragen: Ist es überhaupt anderswo? Ist es nicht in uns allen?
Eine Folge des Kosovokrieges ist, dass ein selbstverliebtes und schöngeistiges Räsonnement nur noch schwer möglich ist. Nach Jahrzehnten erfolgreicher Verdrängung durch Stellvertreterkriege, Entspannungspolitik und Wiedervereinigung hat die Kriegsfrage einen Riss in unserem Land sichtbar gemacht, der vorher durch einen nie geprüften Konsens erfolgreich verdeckt wurde.
Es ist der Riss zwischen dem akademischen und dem politischen Establishment, wobei dies bitte nur allegorisch verstanden werden soll. Mit dem akademischen Establishment meine ich, in Ermangelung eines besseren Begriffs, jene Politiker, Journalisten und Intellektuelle, die in ›akademischen‹ Begriffen denken und handeln, ich meine nicht die übliche universitäre Praxis. Der akademische Standpunkt war durch zwei Kernthesen gekennzeichnet:
- Nie wieder Krieg!
- Das Völkerrecht darf nicht angetastet werden.
Beide Thesen waren, ungeprüft, jahrzehntelang Grundkonsens in der Bundesrepublik Deutschland, weil sie von einem rein akademischen Standpunkt aus betrachtet, Anspruch auf absolute Allgemeingültigkeit haben.
Das Lager auf der anderen Seite des Risses ist weniger eindeutig auf klare und unumstößliche Thesen festzulegen. Im politischen Establishments finden wir ebenfalls Politiker, Journalisten und Intellektuelle und dazu ein Konglomerat aus sehr verschiedenen Kriterien, die man auch nur noch ungeordnet auflisten kann.
- Die Menschenrechte müssen geschützt werden.
- Wir müssen innerhalb Europas unser Wertesystem verteidigen.
- Wir müssen solidarisch mit unseren Verbündeten handeln.
Dass diese beiden Standpunkte in der Kriegsdebatte bei uns so unvermittelt aufeinander trafen, lässt ein Versagen unserer politischen Kultur vermuten. Akademische Grundsätze und politisches Handeln existieren in unserem Lande scheinbar ohne gegenseitigen Austausch nebeneinander. Es ist die Trennung zwischen dem politischen und dem akademischen Diskurs, der in Deutschland die Debatte so heftig werden ließ.
Nach dem Ende der Luftangriffe schien es eine Weile so, als ob dieser Riss durch Geld und gute Worte wieder verdeckt werden könnte. Während anderswo im Kosovo Überlebende die verkohlten Habseligkeiten ihrer Familien, die Uhr des Vaters, die Kette der Schwester, den Ring der Mutter, die Gürtelschnalle des Bruders aus der hellen Asche verbrannter Menschenkörper klaubten und sie an der Wand ihres zerstörten Hauses aufreihten, um sie den Sensationssammlern unserer Medien vorzuzeigen, lehnten wir uns auf unserer Wohlstandswolke zurück und waren nur noch ängstlich darum besorgt, genügend Aufträge für die deutsche Wirtschaft im zerstörten Kosovo zu akquirieren.
Die Massengräber und die Schilderungen der Opfer über serbische Massaker ließen in uns das Gefühl aufkeimen, dass es denn doch gut und richtig war, Serbien zu bombardieren. Und als die Serben den Kosovo verließen, dachten wir Bildungsbürger: Wer Wind sät, wird Sturm ernten.
Erst als die Russen den Flughafen von Pristina im Handstreich nahmen und Gerüchte hochkochten, dass auch russische Söldner an Massakern mitgewirkt haben sollen, schwante uns, dass wir noch lange nicht aus dem Gröbsten heraus sind.
Und nun der Mord an 14 serbischen Bauern, die, wenn man den Zeitungsberichten glauben darf, während der serbischen Besatzung die zwei einzigen albanischen Familien im Dorf geschützt haben sollen. Egal, ob die Mörder nun UCK-Terroristen, albanische Verbrecherbanden oder serbische Provokateure waren, der Einsatz der KFOR-Truppen wird dadurch nicht einfacher. Eine Verständigung über die langfristigen Ziele eines solchen Einsatzes wird aber immer drängender.
Mir scheint, dass die so genannte ›Einbindung‹ Russlands in den Friedensprozess anschaulich zeigt, wie sehr unsere Außenpolitik den Charakter des Übergangs hat. Man wollte die Russen zwar dabei haben, da aber Russland weder Fisch noch Fleisch ist, und im nächsten Jahr Präsidentschaftswahlen sind, die in Russland scheinbar immer auch Chaos und Rückfall in die Diktatur bedeuten können, sollten die russischen Truppen möglichst nur dekorativen Charakter haben. Dieser Spagat ist gelungen. Entschieden ist damit natürlich nichts. Aber immerhin schwingt das akademische Pendel, das in Russland entweder den Erzfeind oder harmonieselig einen Teil des christlichen Abendlandes sieht, nunmehr weniger stark und damit realitätsnäher.
Ob zur Zeit eine Neuorientierung der deutschen Außenpolitik insbesondere in Richtung USA (Stichwort: Industriespionage, das friendly fire des Friedens) und Russland stattfindet, ist schwer zu sagen. Seltsamerweise wird das Ganze nur selten in einen größeren, ›akademischen‹ Zusammenhang gestellt. Was Anfang der 70er Jahre noch selbstverständlich war, nämlich die außenpolitische Praxis mit der akademischen Praxis zu verbinden, ist heute scheinbar nicht mehr möglich. Aber nur wenn beide Seiten zusammen agieren, ergibt sich so etwas wie ein Weltbild, ein Koordinatensystem von Entscheidungskriterien. Wer aber erklärt uns die neue Außenpolitik?
Was man lediglich mit einiger Sicherheit sagen kann: die Neuorganisation eines Weltbildes ist sicherlich zu komplex für ein erbauliches Lehrgedicht, obwohl der Reim verführerisch ist: Anderswo im Kosovo. – Solingen 26. Juli 1999