Der männliche Artikel als Urmeter der deutschen Sprache

Heute habe ich wieder einmal etwas hinzugelernt. Ein Leserbrief aus dem fernen Österreich erreichte meinen elektronischen Briefkasten und konfrontierte mich mit der Frage, warum ich das Wort ›selbstständig‹ benutzen würde und nicht ›selbständig‹ schriebe, immerhin gehöre letzteres zur Häufigkeitsklasse 11, während ersteres nicht über Klasse 16 hinausgekommen sei.

Da ich von Häufigkeitsklassen bis heute keinen Schimmer hatte, begründete ich mein Tun mit der von mir am 27. September letzten Jahres gefällten Entscheidung, nichts besser, aber vieles anders zu machen; und fragte, um welche Liga es sich denn bei den Häufigkeitsklassen handele.

Als Antwort wurde ich auf eine Website verwiesen, von der aus ich letztendlich zu den Leipziger Wortezählern gelangte. Dort heißt es:

»Das Wortschatz-Lexikon stellt sich zum Ziel, den deutschen Wortschatz so vollständig wie möglich zur Verfügung zu stellen. Grundlage ist der gegenwärtig in maschinenlesbaren Quellen zur Verfügung stehende Text. Momentan enthält die Datenbank mehr als 5 Millionen Wortformen sowie mehr als 11 Millionen Beispielsätze.«

Auf dieser Webseite kann man nun Worte in ein Formular eingeben, die dann auf ihre Klassenzugehörigkeit hin überprüft werden: ein Verfahren, für das mir Leipzig nicht ungeeignet erscheint. Zuerst wollte ich natürlich nachprüfen, ob die Briefeschreiberin mich nicht verkohlt hatte, und ich war schon drauf und dran, die Worte ›selbstund selbständig‹ zu überprüfen, als es mir dann doch passender erschien, das Wortschatz-Lexikon1 zunächst einmal mit dem Wort ›Spunk‹ auf die Probe zu stellen. Als Ergebnis erhielt ich folgende überraschende Auswertung:

Wort Spunk
Häufigkeitsklasse 20 (d.h. ›der‹ ist ca. 220 mal häufiger als das gesuchte Wort)
Sachgebiet Vorname
Grammatikangaben Wortart: Eigenname
Wortart: Substantiv
Geschlecht: sächlich
Flexion: das Spunk, des Spunks, dem Spunk, das Spunk,
die Spunk, der Spunk, den Spunk, die Spunk
Kollokationen Arurmukha
Beispiel(e) Frühlingserwachen statt Kifferhöhle mit Arurmukha und
Spunk Zwo auf der Radio 100-Party in der Villa
Kreuzberg ab 20 Uhr. (bereits am Freitag spielen
Arurmukha in der Rigaer Straße auch für Radio 100)
Harald Fricke (Quelle: TAZ 1991)
Als der ein Jahr ältere Hülpüsch seine Freundin für
drei Monate besuchte, brachte die schon längst mit
drei deutschen Kommilitonen Spunk heraus. (Quelle:
TAZ 1996)
Mit dem fotokopierten Spunk erreichte man eine
gewisse Berühmtheit im lokalen Underground. (Quelle:
TAZ 1996)

Nun begann ich nachdenklich zu werden: die Leipziger Informatiker erfassen also maschinenlesbare Texte. Und da ich seit mittlerweile über einem Jahr das Internet täglich mit dem Wort ›Sudelbuch‹ ein wenig mehr auffülle, müsste dieses Wort doch inzwischen in die Oberklasse aufgestiegen sein. Wenigstens sollte es das Wort ›Spunk‹ weit hinter sich gelassen haben, das scheinbar nur durch die TAZ in den deutschen Sprachraum vorgedrungen ist. Also tippte ich ›Sudelbuch‹ in die Maske und erhielt folgende nicht minder überraschende Auswertung:

Wort Sudelbuch
Häufigkeitsklasse 19 (d.h. ›der‹ ist ca. 219 mal häufiger als das
gesuchte Wort)
Morphologie sud|el|buch
Grammatikangaben Wortart: Substantiv
Geschlecht: sächlich
Flexion: das Sudelbuch, des Sudelbuch(e)s, dem
Sudelbuch, das Sudelbuch die Sudelbücher, der
Sudelbucher, Sudelbüchern, Sudelbücher
Beispiel(e) »Ein jedes Mädchen«, notierte der wirkliche
Lichtenberg in sein Sudelbuch, »ist die Verwalterin
der weiblichen Mysterien.« (Quelle: FAZ 1994)
(in dem rotfaschistischen Sudelbuch Zu den
Unterlagen), der sollte vor der Öffentlichkeit
gefälligst die Katschnauze halten! (Quelle: TAZ 1991)
Dennoch: Wenn er selbst das Wort ergriff, den tumben
Bierdimpfl mimte, dann wirkte das Sudelbuch aus dem
Wald einigermaßen authentisch (er mußte dabei auch
nicht so brüllen wie Raida) und berührte in seiner
sprachlichen Unbeholfenheit. (Quelle: Sueddeutsche
Zeitung 1995) Zitat Ende

Dieses Ranking enttäuschte mich dann doch sehr. Mein Engagement für dieses Wort wurde scheinbar überhaupt nicht gewürdigt.

Aber was will man auch von einem Projekt erwarten, dass den männlichen Artikel zum Urmeter der deutschen Sprache macht? Dabei gehört – ich habe es überprüft – ›die‹ zur Klasse 0, was bedeutet, dass der nur 20 mal – also einmal (damit muss Adam gemeint sein) – häufiger ist als ›die‹. Warum also ›der‹ und nicht ›die‹? – Nun gut, ich will da nicht weiter die patriarchalischen Untergründe des Forschungsvorhabens hinterfragen. Das Sudelbuch nur knapp vor dem Spunk. Vielleicht liegt es einfach daran, dass ich immer wieder Tage auslasse und nichts hinsudel'.

Einen letzten Versuch machte ich dann aber doch noch und tippte das Sloterdijksche ›Anthropotechnik‹ ein und erhielt das folgende, hoffnungsvolle Ergebnis:

Es wurden keine Ergebnisse gefunden.

Wenn Sie Anthropotechnik zur Neuaufnahme in das Lexikon vorschlagen möchten, schreiben Sie uns bitte Grammatik- und weitere Angaben zum Wort und drücken Sie den Knopf ›Neuaufnahme‹.

Nein, dachte ich, das wäre dann doch zu viel der Ehre!2Solingen 28. September 1999

Literatur

Deutscher Wortschatz - Portal. 1999. Internet: http://wortschatz.uni-leipzig.de/. Zuletzt geprüft am: 23.9.2014.

Fußnoten


  1. Deutscher Wortschatz - Portal. 1999. Internet: http://wortschatz.uni-leipzig.de/. Zuletzt geprüft am: 23.9.2014. ↩︎

  2. Mittlerweile hat ›Anthropotechnik‹ die Häufigkeitsklasse 21 erreicht und liegt damit gleichauf mit ›Sudelbuch‹. ↩︎