Das Anti-Europa schlechthin
Putin, der russische Ministerpräsident, ist ein Kavalier der alten Schule. Wenn das tschetschenische Volk Russland um Hilfe bitten würde, dann wäre er bereit, hilfreich und gut, Grosny von islamischen Terroristen zu befreien. Von chirurgischen Militärschlägen ist in Russland schon lange nicht mehr die Rede, wohl weil man eingesehen hat, dass das Ausland ohnehin keine große Meinung von der einheimischen Chirurgie haben kann, da sich russische Politiker und Mafiosi immer wieder im Ausland operieren lassen, anstatt sich dem Gemetzel der eigenen Chirurgen anzuvertrauen.
Tschetschenien ist weit weg. Zwischen den bösen Russen und den bösen Moslems ist die gute Seite nicht auszumachen. Nur die Opfer sind erkennbar. Während auf dem Balkan mittlerweile europäische Hinterhofsruhe herrscht und Deutschland in Ost-Timor mit einer ganz kleinen Bundeswehreinheit die Flagge der Menschenrechte hochhält, sind wohl alle Politiker quer durch alle Fraktionen heilfroh, nichts mit dem Tschetschenienkrieg zu tun zu haben.
In Russlands islamischem Hinterhof kommen aber auch alle Geißeln, die sich die westliche Vorstellungskraft in ihren schlimmsten Albträumen ausmalen kann, zu einem monströsen Gipfeltreffen zusammen. Russischsowjetischer Imperialismus, russisch-kaukasische Mafia und islamischer Fundamentalismus toben sich irgendwo dort drüben am östlichen Rand der europäischen Welt mit endzeitlicher Heftigkeit aus.
Das Martyrium dieser Weltgegend ist uns ein fürchterliches Menetekel. Nicht allein, weil wir eine Ausbreitung des Konflikts auf andere islamische Länder befürchten, sondern weil diese Länder unserer Hilfe scheinbar nicht zugänglich sind. Wo soll man auch anknüpfen?
Der Kaukasus erscheint als das Anti-Europa schlechthin; nichts von dem, worauf wir Europäer unsere Existenz, unser Denken und Handeln stützen, ist dort vorhanden. Von Marktwirtschaft, Demokratie oder gar Rechtsstaatlichkeit keine Spur. Stattdessen Stammesloyalitäten wie in Afrika, ein Religionsverständnis wie im Mittelalter und ein russischer Imperialismus, der nahtlos ans Zarentum und die Sowjetunion anschließt.
Russland wird diesen Kampf verlieren. Tschetschenien wird ein zweites Afghanistan, der Islam wird siegen und den Kaukasus vollständig vom Rest der Welt abkoppeln. Und das in einer Zeit, in der spät zwar und schneckenlangsam der Iran damit beginnt, seine muffigen Gebetsteppiche auszuklopfen.
Putin also ist bereit, mit seinem ganzen Militärapparat dem tschetschenischen Volk zu Hilfe zu eilen. Was aber machen wir, wenn einmal das russische Volk um Hilfe schreit? – Solingen 11. Oktober 1999