Adam, der 6000000000ste
Eine 29jährige Bosnierin gebar heute Morgen kurz nach Mitternacht in Sarajewo Adam, den 6000000000sten Erdenbürger. Adam ist gesund und munter und wird heute Nachmittag von Kofi Annan persönlich im Namen der übrigen 5999999999 Menschen auf Erden begrüßt.
Willkommen im Leben! So habe ich meine Söhne bei ihrer Geburt begrüßt, so sei auch Adam der 6000000000ste empfangen. Wie ist, will man ihn fragen, und braucht doch nur in den Spiegel zu schauen, wie ist es, der 6000000000ste zu sein, wo doch jeder der Erste sein will?
Wir haben uns an große Zahlen, an Rekorde gewöhnt. Die 10.000er Marke der Wall Street, die 5000er Marke vom DAX, das Bruttoinlandsprodukt, die Zahl der verkauften Autos und Fernsehgeräte, die Auflagen der Zeitungen, die Zahl der Neuerscheinungen auf der Frankfurter Buchmesse, der Jackpot im Lotto, die Zahl der Internet-Benutzer, die Zahl der Verbrechen, der Autounfälle, der Selbstmorde, die Staatsverschuldung, die Gewinne der immer größer, immer mächtiger werdenden Konzerne, die Zahl der Arbeitslosen, der Toten des Holocausts, des Zweiten Weltkriegs, des Stalinismus, die Zahl der Verhungernden, der in Bürgerkriegen Getöteten, der Flüchtlinge, der Asylbewerber, der Heimatlosen, die Zahl der geschlachteten Rinder, Schweine und Hühner, die Einschaltquoten, die Zahl der dummen Gedanken, der Zuschauer, der Abhängigen, die Höhe der privaten Vermögen, der hinterzogenen Steuern, des bei Wahlen entzogenen Vertrauens.
Die große Zahl ist der Moloch, vor dem die 1 nicht wertvoller ist als die 0. Die Namen der 6000000000 – sie passen auf ein paar Festplatten. Aber die Fotos der 6000000000 passen in kein Album. Ich, du, er, sie, es – wir alle sind der 6000000000ste Adam, die 6000000000ste Eva; doch Kofi Annan kann nicht jedem von uns die Hand geben. Also ist es vor allem der Junge in Sarajewo, der sein Leben lang die Last, der 6000000000ste zu sein, tragen muss. Vor aller Augen vielleicht, denn irgendwo auf der Welt findet sich bestimmt ein Fernsehteam, das jede Geste des 6000000000sten aufzeichnen, kommentieren und verwerten wird.
In sechs Jahren werden sie den ersten Schultag des 6000000000sten Erdenbürgers filmen, während gleichzeitig irgendwo die 7000000000ste Eva geboren wird. Die Erde wird uns Menschen nicht mehr los, eher verlieren wir sie. Egal welche Seuche, welch teuflischer Virus über uns kommt, Millionen Menschen werden gegen ihn immun sein. 6000000000 Menschen, das sind mehr als doppelt so viele wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zwei Einsteins weilen unter uns und zwei Hitlers.
Der Mensch, das in kleinen Horden zusammenlebende Tier, der Sohn der Eiszeit könnte heute in keiner fremderen Umwelt leben. Wann hätten wir je lernen sollen, 6000000000 zu sein? Machen wir uns nicht eines ungeheuerlichen, wahrnehmungspsychologischen Genozids schuldig, wenn wir einfach weiterleben, als bestände unsere Welt nur aus den Bewohnern unserer Straße, unseres Viertels, aus unserer Kleinfamilie, aus zwanzig oder dreißig Arbeitskollegen, aus ein paar ehrgeizigen Konkurrenten und bösen Nachbarn, aus schnell vergessenen kleinen Flirts, aus ein paar Freunden und Freundinnen und aus dem kleinen Zirkel der Prominenten, die unsere mediale Stammeshorde bilden? Und haben wir denn eine Wahl? Können wir verhindern, dass wir Milliarden einfach ausblenden? Adam, du bist der 6000000000ste. Du bist einer von uns. Du musst einer von uns sein, sonst sind wir nicht mehr wir selbst. Und Adam, du warst nicht der Letzte, der heute geboren wurde. – Solingen 12. Oktober 1999