Das Handwerk und sein goldener Boden
Dass das Handwerk goldenen Boden hat, weiß jeder, der schon einmal von einem Handwerker eine Rechnung bekommen hat oder intensiv über die Vorzüge der Schwarzarbeit nachgedacht hat. Ein Handwerk will gelernt sein, man beginnt als Lehrling, arbeitet sich hoch bis zum Gesellen und wird schließlich, so die Ständeordnung es zulässt und man sein Fach beherrscht, Meister. Wahrscheinlich kommt unsere Bundesregierung deshalb auch auf keinen grünen Zweig: sie begeht einfach, wie sie selbst sagt, zu viele handwerkliche Fehler. Mit diesem mittlerweile geflügelten Wort möchte unsere Regierung darauf hinweisen, dass sie zwar das Richtige wolle, dieses Richtige aber nicht ganz fachgerecht umgesetzt habe. Nun wird sich jeder Häuslebauer fragen, welchen Sinn ein Palast macht, der zwar von Stararchitekten in den Wolken entworfen, aber von ungelernten, illegalen Arbeitskräften aus dem Osten in den Sand gesetzt wird. Die Antwort ist einfach: keinen. Wenn man dann aber weiter fragt, wen man für dieses Missgeschick in die Wüste schicken soll, erhält man die überraschende Antwort: den Architekten!
Dies forderte gestern jedenfalls der freidemokratische Teil unserer Opposition, als sie in der Gesetzesvorlage zur Gesundheitsreform Textstellen entdeckten, die vom Gesundheitsausschuss gestrichen worden waren, aber ganz offensichtlich von der Schreibkraft des Gesundheitsministeriums nicht gelöscht worden waren. Nun verstehe ich persönlich nicht viel vom Handwerkszeug eines Politikers, sehr viel aber von den Werkzeugen der textverarbeitenden Dienstleistungsbranche. Und da kann ich mich nur schützend vor die Schreibkraft der Ministerin stellen, da ich weiß, dass die Beamten der Bundesregierung sämtlich mit Microsoft Word arbeiten müssen, einem Programm, das schon so manche Diplomarbeit kurz vor Abgabe buchstäblich zunichte gemacht hat. Wer einem Maurer keine ordentliche Kelle gibt, braucht sich nicht zu wundern, wenn die Wände krumm werden. An den Pranger gehört also weder Frau Fischer, noch die bedauernswerte Schreibkraft, sondern vielmehr diejenigen, die für die Handwerkszeuge in den Büros verantwortlich sind.
Handwerkliche Fehler sind ärgerlich, weil sie jeder – und sei er noch so dumm – sehen kann. Die Wahrheit, oder zumindest einen Zipfel davon, wollen dagegen viele oft nicht sehen. Und so ging vor vier Jahren, als die Wehrmachtsausstellung eröffnete, ein Aufschrei der Entrüstung durch die rechte Presse in Deutschland. Die Wehrmacht, der letzte Strohhalm deutscher Tugend für die Ewiggestrigen, wurde auf Stellwänden als das gezeigt, was sie war: ein Instrument des Völkermords. Nachdem weder rechte Aufmärsche noch Bombendrohungen, ja noch nicht einmal das Einschreiten der CSU, den Kreuzzug der Ausstellung gegen den letzten Mythos des Dritten Reichs durch deutsche Gemeinden aufhalten konnten, und die Ausstellung schließlich immer seltener Schlagzeilen machte, da stellte ein polnischer Historiker in der Ausstellung handwerkliche Fehler fest. Wie immer, wenn es um den Nationalsozialismus geht, verhärteten sich die Fronten schnell. Die Ausstellungsmacher glaubten, die Kritik gegen den Pfusch am Bau richte sich gegen den Entwurf des Architekten, und so wollten sie die Kritik anfänglich nicht zur Kenntnis nehmen. Natürlich ist der polnische Historiker, wie jeder ordentliche Wissenschaftler, ein Erbsenzähler, der – für Polen nicht ganz unwichtig – erkannte, dass einige Fotos, die angeblich von der Wehrmacht ermordete Zivilisten zeigen sollen, in Wahrheit Verbrechen des NKWDs dokumentierten. Nun sind Erbsenzähler unangenehme Zeitgenossen, aber sie sind notwendig, weil sie uns helfen, unser Pulver gegen den wirklichen Feind trocken zu halten. Dies hat nun auch Jan Phillip Reemtsma, der Geldgeber der Ausstellung und Leiter des Instituts für Sozialforschung erkannt und die Ausstellung vorübergehend geschlossen, um die Messer wieder zu schärfen.
Handwerkliche Fehler sind übrigens nicht immer schlecht. Manchmal haben sie auch positive Folgen. Wie z. B. der handwerkliche Fehler, der Schabowski vor zehn Jahren unterlaufen ist, als er die Sache mit der Sperrfrist vergeigte und auf der legendärsten Pressekonferenz der Geschichte den Fall der Berliner Mauer von einem Blatt ablas, das ihm SED-Chef Krenz ohne Kommentar kurz vor der Pressekonferenz zugesteckt hatte. Die Nacht der Nächte, die damals seiner in Politbürodeutsch abgefassten Verlautbarung folgte, zeigte aller Welt, dass die deutsche Teilung zu Ende war.
Wirklich zu Ende? Wenn uns da mal nicht wieder ein handwerklicher Fehler unterläuft!
Denn nun zehn Jahre nach der Maueröffnung will man dieses Ereignis, das sich spontan, mit ungläubigem Staunen und in wilder Freude auf den Straßen Berlins ereignete, in würdevollen, abgemessenen Worten feiern. Doch wie immer, wenn es um deutsche Geschichte geht, haben sich die Fronten wie auf Kommando wieder verhärtet, denn die Ostdeutschen sollen weder würdevoll noch sonstwie zu Wort kommen. Dieses seltsame Verhältnis bei der Aneignung von Geschichte musste irgendwann einmal einem Erbsenzähler auffallen, und so hebt ein typisch deutscher Streit an. Doch bald, da bin ich sicher, heißt es wieder: Es war doch lediglich ein handwerklicher Fehler, die Feier am 9. November – wenigstens auf der Rednerliste – unter Ausschluss der ostdeutschen Bevölkerung zu begehen. – Solingen 5. November 1999