In Erwartung des Jüngsten Gerichts
Das Heraufziehen des neuen Zeitalters, des neuen Millenniums löst bei vielen Zeitgenossen eine ungeheure apokalyptische Grundstimmung aus. Damit meine ich nun nicht die Angst vor dem großen Millennium-Bug, sondern die Gottesfurcht vor dem Ende aller Zeiten, vor der großen Abrechnung beim Jüngsten Gericht. Schaut man in die Tageszeitungen, so hat man den Eindruck, alle Welt wolle sich schnell, gründlich und vor allem schmerzlos von den vielen kleinen und großen Sünden der Vergangenheit befreien. Da wird angeklagt, da wird geleugnet, da wird geflennt und um Gnade gebettelt, da wird mit dem Finger auf andere gezeigt, dass es dem Engel Gabriel mit seinem großen Schwert eine Lust sein muss, spart er sich so doch die Zeit für eine eigene peinliche Inquisition seiner Probanden. Wie vor dem Erzengel fallen kurz vor Silvester 1999 alle Hüllen und zeigen die Sünder in ihrer ganzen Nacktheit. Die deutsche Presse fuchtelt als Erzengel des Medienzeitalters mit scharfem Schwert und deckt alle kleinen Sünden gegen den heiligen Geist der parlamentarischen Demokratie auf. Sie sieht alles: ob sich der eine von TUI nach Ägypten einladen oder der andere von seiner Landesbank nach Kroatien fliegen lässt, ob sich der eine mit ollen Büchern beschenken lässt oder ein anderer druckfrische Tausendmarkscheine in einem Koffer entgegennimmt. Sogar drei ehemalige Landtagsabgeordnete der Grünen stehen auf, reißen sich das Hemd entzwei, schlagen sich – ›mea culpa‹ rufend – an die Brust, streuen sich Asche aufs Haupt und gestehen freimütig, dass sie entgegen eines Parteibeschlusses von 1994 nicht die vollen 15 Prozent ihrer Diäten an die Partei abgeführt haben.
Geißler, der sicher auch gerne Großinquisitor geworden wäre, wenn er einmal in seinem Leben seinen großen Vorsitzenden hätte befragen dürfen, hat Kohl dahin gestellt, wo er vermutlich hingehört: auf die Armesünderbank. Und wer weiß, ob er nicht schließlich da Platz nehmen muss, wo sein Amtskollege aus Italien, der biedere Herr Andreotti, schon saß.
Nun hat also auch Kohl gestern zugegeben, was wir alle schon wussten, dass er Millionen auf schwarzen Kassen gehortet hat, um sie, ganz großzügiger Pate, an kniefällige Landesverbände und verdiente Familien-, pardon! Parteimitglieder zu verteilen. Und vehement bestritt er, bestechlich gewesen zu sein, jeden Pfennig hätte er immerhin für die cosa nostra der Partei ausgegeben.
Parteiorgane der CDU, wie DIE WELT, wiederholen gebetsmühlenartig seit Tagen Schäubles Parole, dass Kohls Unbestechlichkeit über jeden Zweifel erhaben sei. Es ist ja auch völlig abwegig, zu glauben, dass jemand bestechlich sei, nur weil er Millionenbeträge aus dunklen Quellen erhält und dieses Geld auf geheimen Konten verwaltet, damit seine Partei, vor allem aber wohl die Steuerfahndung und die Opposition ja nichts von diesen Reichtümern mitbekommen. Nein, sagen alle: Kohl hat sich für dieses Geld ganz gewiss nur mit einem feuchtwarmen Händedruck bedankt.
Endzeitstimmung ist angesagt. Wie in Sartres Hölle stürzen sich nun die Mitmenschen, die Parteifreunde, die Staatsanwälte, die Steuerfahnder, die Untersuchungsausschüsse und die nicht linientreuen Journalisten auf Kohl und werden ihn immer wieder fragen, woher er das Geld denn bekommen habe. Und ich bin mir sicher, dass ein Vergleich zwischen der Liste der Geldgeber und der Liste der politischen Entscheidungen der 16 Kohl-Jahre die Frage nach der Bestechlichkeit von Kohl wohl beantworten wird. Natürlich ist Kohl nicht, wie jeder x-beliebige Beamte, im Wortsinne bestechlich. Wir haben es hier mit ganz anderen Dimensionen zu tun. Für das, was da noch kommen könnte, müssen erst noch die richtigen Begriffe gefunden werden, die der Würde und Macht des Amtes gerecht werden. Jedenfalls darf noch eine Weile spekuliert werden, woher der ehemalige Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland sein Taschengeld bezog.
Und auch die Scheinheiligen wird vor dem Millenniumswechsel noch das Racheschwert des Erzengels treffen, diejenigen, die nun so tun, als habe Kohl das alles hinter ihrem und dem Rücken der Partei gemacht. Geißler immerhin wusste es. Warum sollen es andere nicht gewusst haben? Es wird spannend in Erwartung des Jüngsten Gerichts! Und ich sah die Abgeordneten und Aufsichtsräte, groß und klein, stehen vor dem Thron, und die Bücher wurden aufgeschlagen. – Solingen 1. Dezember 1999