Der Nikolaus auf dem Tankstellendach

Seit einigen Tagen schon versucht ein Nikolaus auf das Flachdach der Tankstelle bei uns um die Ecke zu klettern. Weit ist er bisher nicht gekommen, denn beladen mit einem prall gefüllten Sack konnte er sich seither um keinen Zentimeter fortbewegen. Immer noch hängen seine Beine in der Luft, und er kann sich so gerade eben auf dem Flachdach festkrallen, so dass er nicht herunterfällt. Sein Kopf, der wegen der ungeheuren Anstrengung schon hochrot sein muss, ist von unten aus nicht zu sehen. Auch lässt sich nicht sagen, ob er einen langen weißen Bart trägt, oder sich vor seinem Ausritt ordentlich rasiert hat. Wo aber sein Schlitten und die Rentiere geblieben sind, weiß niemand. Fragen kann man ihn auch nicht, denn er ist nicht gerade mitteilsam, um nicht zu sagen äußerst verschlossen und schweigsam. Auf Anrufe reagiert er zum Beispiel überhaupt nicht. Ich kann dieses verbissene Schweigen allerdings verstehen. Vermutlich schaut er auf ein höfliches »Guten Tag, lieber Nikolaus« nur deshalb nicht nach unten, weil er fürchtet, bei der geringsten Bewegung abzurutschen und neben die Zapfsäulen auf den Beton zu klatschen.

Für das Nikolausfest sehe ich also schwarz, denn wer soll die Kinder beschenken, wenn der Nikolaus hier bei uns in Solingen-Ohligs auf dem Dach einer Tankstelle herumrobbt wie ein KFOR-Soldat im Häuserkampf. Es wird also nichts mit Haselnuss und Mandelkern, mit Playmobil und Lego Technic, so dachte ich jedenfalls bis vor einigen Tagen, und sah auch schon ganze Armeen leerer Stiefel in zugigen Hausfluren stehen, da entdeckte ich plötzlich vom Zug aus im Vorbeifahren einen zweiten Nikolaus, der gerade versuchte in ein bergisches Fachwerkhaus einzusteigen: durchs Fenster im ersten Stock. Ob es nun an mangelndem Training lag, immerhin liegen die Nikoläuse ja die meiste Zeit des Jahres auf der faulen Haut, oder ob es einfach sein hohes Alter war, jedenfalls hing auch dieser Nikolaus wie ein nasser Sack am Fenstersims und schien am Ende seiner Kräfte zu sein. Mehr konnte ich leider nicht sehen, weil der Zug weiterfuhr und das bergische Fachwerkhaus mit seiner tristen, grauen Schieferfassade hinter entlaubten Bäumen verschwand.

Irritiert von dieser plötzlichen Verdopplung des Nikolauses begann ich nachzudenken und kam zu dem Schluss, dass es sich, wenigstens bei dem halb auf dem Dach liegenden, halb an ihm hängenden Nikolaus um eine Fälschung handeln muss, oder, um die Dinge beim Namen zu nennen: um ein Idol, um eine sinnbildliche Verkörperung des aus unserer Fantasie verschwundenen Nikolauses. Das Verhältnis zwischen dem einzig wahren Nikolaus und diesem Freeclimber am Tankstellendach ist so ungefähr das gleiche wie zwischen einem klapprigen, grell angeleuchteten Plastikskelett in einer Geisterbahn und dem dunklen Gespenst, das sich früher in meinem Zimmer nur durch ein leises, ausschließlich mir, dem Fünfjährigen, hörbares Knirschen kundgetan hat.

Wir erleben also gerade die Geburt eines neuen Kultes. So wie vor vielen hundert Jahren ein Kölner Lumpen mit Stroh füllte, und diese Strohpuppe erst henkte, um sie schließlich auf offener Straße als Nubbel zu verbrennen, so erfindet die unergründliche Schöpferkraft des gemeinen Volkes nun einen neuen Kult: die Inkarnation des Nikolauses als verkleidete Schaufensterpuppe. Wer kann heute schon ahnen, welche Folgen dieser neue bergische Brauch haben mag. Schon sah ich einen riesengroßen, zwar nur aufgeblasenen, dafür aber um so mehr feixenden Nikolaus auf dem Dach einer anderen Tankstelle sitzen und leicht im Sturm der letzten Tage schwanken. Wer weiß, vielleicht krabbeln in fünfzig Jahren Dutzende von mikrochipgesteuerten Nikolaus-Robotern wie Spiderman an jeder Kaufhausfassade herum?

Bei solch vielversprechenden Aussichten überlege ich, ob ich nicht noch schnell meine Stiefel putzen und vor die Haustüre stellen soll, denn vielleicht schafft es Nikolaus ja, mit letzter Kraft schließlich doch auf das Tankstellendach zu klettern, seinen heißen Schlitten vollzutanken und loszudüsen. Und dann will man ja nicht zu kurz kommen. – Solingen 6. Dezember 1999