CDU am Abgrund tat entscheidenden Schritt nach vorn
Die CDU, die bekanntlich seit einigen Wochen am Abgrund steht, hat gestern nach Aussage der Parteiführung einen entscheidenden Schritt nach vorn getan. Wenn dem doch so wäre! Aber noch ist die Partei nicht in den Abgrund gefallen, noch glaubt niemand wirklich daran, dass die CDU ihrer italienischen Schwesterpartei in die Selbstauflösung folgen wird. Der deutsche Michel ohne CDU? Das kann sich keiner so recht vorstellen! Gerade deshalb frage ich mich – natürlich rein spekulativ -, ob das Verschwinden der CDU als Partei für unser Land nicht ein Segen wäre.
Das Ende der DC hat Italien gut getan
Die Selbstauflösung der Democrazia Cristiana in Italien hat dem Land gut getan. Jahrzehntelang hat die Schwesterpartei der CDU das Geschehen in Italien beherrscht. In fast allen Nachkriegsregierungen Italiens war die DC vertreten. Aus schierer Angst vor den Kommunisten haben die Wähler Italiens immer wieder den Beelzebub gewählt, um damit den Teufel aus Italien zu vertreiben. Erst als der Kommunismus in Osteuropa zusammenbrach, ging es abwärts mit der einst mächtigsten Partei Italiens. Die jahrzehntelange Beteiligung an der Macht hatte die Partei dermaßen korrumpiert, dass die Staatsanwälte nicht lange suchen mussten, um mitten in einen stinkenden Sumpf aus Korruption und Machtmissbrauch zu greifen. Mit der Anklage von Andreotti, dem langjährigen Vorsitzenden der DC, fand die Säuberung Italiens ihren vorläufigen Höhepunkt. Um einen Neuanfang zu schaffen, änderte die DC ihren Namen, doch es war zu spät. Die Partei zerfiel, ein sich selbst blockierendes Parteiensystem brach in sich zusammen und wurde durch ein neues ersetzt. Auch wenn mit dem Sturz der DC weder Korruption noch sonst eine der vielen politischen Seuchen in Italien ausgerottet wurde und der politische Umbruch so zwielichtigen Persönlichkeiten wie Silvio Berlusconi den Weg an die Macht geebnet hat, die Zerschlagung der DC hat Italien nach vorn gebracht. Immerhin hat das Land unter der Regierung Romano Prodis die Euro-Kriterien erfüllt.
Eine Volkspartei eint nur der Wille zur Macht
Die Zerschlagung der CDU wäre wahrscheinlich auch das Ende der großen Volksparteien überhaupt. Unserer Demokratie und dem politischen Klima in unserem Land täte dies gut. Denn eine Volkspartei hat notwendigerweise nur ein sehr allgemein formuliertes Programm, und sie hat keinerlei Veranlassung, durch eine Konkretisierung ihrer politischen Ziele potentielle Wählergruppen abzustoßen. Noch weniger darf man von einer Volkspartei innovative Lösungsansätze für strukturelle Probleme der Gesellschaft erwarten. Als gemeinsamer Nenner für die Mitglieder einer Volkspartei bleibt nicht viel mehr übrig als der gemeinsame Wille zur Macht, den die CDU gestern wieder einmal eindrucksvoll bestätigt hat. Auf Kommando funktionierte der Reflex, sich um die Macht zu scharen und die Reihen fest zu schließen. Anstatt das Ruder herum zu reißen und sich zu erneuern, entschieden sich die Präsidiumsmitglieder und der Vorstand für das bewährte »Weiter so!« der Kohl-Ära. Was soll eine Volkspartei ohne wirkliches Programm auch anderes tun? Beide Volksparteien, CDU/CSU und SPD, blockieren seit Jahren strukturelle Reformen in praktisch allen gesellschaftlichen Bereichen. Sie blockieren sich dabei nicht, wie es so oft den Anschein hat, gegenseitig, sondern sie blockieren Reformen aus ihrer inneren Verfassung als Volkspartei. Beide Parteien reklamieren eine imaginäre, politische Mitte für ihre Zwecke. Doch die Mitte einer rotierenden Scheibe dreht sich nur um sich selbst. Wirkliche Bewegung findet nicht statt.
Ein Ruck ginge durch das Land
Der Untergang der CDU würde dieser imaginären politischen Mitte Deutschlands, in Wirklichkeit großen und inhomogenen Teilen der Bevölkerung, die Möglichkeit eröffnen, sich parteipolitisch neu zu formieren. Das träge CDU-Amalgam aus sozialkatholischen, wirtschaftsliberalen und rechtskonservativen Millieus, das sich durch die jahrzehntelange Okkupation der Macht lähmend auf die politische Landschaft gelegt hat, könnte sich ausdifferenzieren und in eine dynamischere Mehrparteienlandschaft münden, die flexibler und innovationsfreudiger auf die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft reagieren könnte. Ein Ruck ginge durch das Land.
Es ist eine Ironie des Schicksals, dass der von Roman Herzog angemahnte Ruck wohl erst dann durch das Land geht, wenn die CDU sich auflöst und eine ganze Parteienlandschaft mit sich in den Orkus reißt. Und genau das soll Roman Herzog nun auch noch als Berater der CDU verhindern.
Das Zerbrechen der CDU würde in der Parteienlandschaft Deutschlands ein Erdbeben auslösen. Das Machtkartell der Nachkriegszeit bräche in sich zusammen, die politische Klasse würde zutiefst erschüttert. Natürlich könnte eine unionisierte SPD große Teile der ehemaligen CDU-Anhänger auffangen und vom Sturz der CDU profitieren. Nicht ausgeschlossen ist aber auch die Bildung neuer Parteien in der Mitte der politischen Landschaft. Naturgemäß werden in Umbruchsituationen Personen und Programme wichtiger als die von den Meinungsforschern so gern zitierte »langjährige Bindung« an eine Partei. Ein Prozess, der heilsam sein könnte. Völlig neue Koalitionen könnten sich bilden und die Verkrustung der politischen Entscheidungsfindung aufsprengen.
Die übrigen Parteien müssten inhaltlich und personell auf die neue Situation reagieren. Die SPD wäre nicht mehr die SPD, die FDP nicht mehr die FDP und die Grünen nicht mehr die Grünen, wenn die CDU von der Bildfläche verschwindet wie ihre Schwesterpartei DC in Italien.
Was fallen will, das soll man stoßen, sagte Nietzsche einmal. Die Wähler haben bald Gelegenheit dazu.
Mit dem Ende der CDU – mehr als ein Jahrzehnt nach dem Ende der SED – wäre die Nachkriegszeit dann endgültig zu Ende gegangen. – Solingen 19. Januar 2000