Jungbrunnen Chile
Das Klima in Chile muss der Gesundheit äußerst förderlich sein; ja, ohne Übertreibung kann man das südamerikanische Land als den so lange vergeblich gesuchten Jungbrunnen bezeichnen. Den untrüglichen Beweis dafür, dass die chilenische Luft wie eine Mischung aus Lourdes und Viagra wirkt, konnte man gestern am Fernsehschirm mit eigenen Augen verfolgen.
Ob es nun die vitale Höhenluft oder die frische Brise vom Pazifik war, kaum hatte der sterbenskranke Pinochet das nasskalte England verlassen und war in Santiago de Chile gelandet, da sprang er auch schon aus dem Rollstuhl und war schlagartig von allen letalen Krankheiten, die ihn in Europa plagten, genesen. Einige Journalisten behaupten zwar, der General, der Pinochet am Flughafen begrüßte, habe dem Senator auf Lebenszeit eine Phiole mit dem Blut gefolterter Regimegegner als Muntermacher unter die Nase gehalten. Aber dieses belebende Riechsalz kann höchstens die Heilung beschleunigt haben. Ausgelöst wurde die wunderbare Genesung des Diktators im Ruhestand durch das besondere Feng Shui Chiles.
Eins ist sicher: Chile wird zu einem Wallfahrtsort für Kranke und Gebrechliche werden. In Massen werden Magenkranke und Gelähmte, vom Schlaganfall Gezeichnete, vom Krebs Zerfressene, von Alterssenilität Zermürbte nach Chile pilgern, um vital, potent und unternehmungslustig wieder zurückzukehren. Wer Geld flüssig hat, sollte sofort in den chilenischen Gesundheitstourismus investieren.
Böse Zungen behaupten zwar, dass Pinochet nie krank gewesen sei. Er habe nur simuliert. Man wisse doch schließlich, wie schnell sich ein simpler Heuschnupfen vor der Musterungskommission urplötzlich zu einem lebensbedrohlichen Asthma bronchiale ausweiten kann. Dies ist natürlich eine böse Unterstellung. Die britischen Ärzte sind zwar keine Hellseher, und Gutachter achten im Grunde bloß gut auf ihr Honorar, aber an der Gründlichkeit der ärztlichen Gutachten kann kein Zweifel bestehen. Wahrscheinlich haben die Ärzte sogar hypergründlich begutachtet und dabei Symptome entdeckt, zu deren Beurteilung der gesunde Menschenverstand allein nicht fähig ist. – Nein, nein. Es war das Karma Chiles!
Die luxuriöse Villa, in der Pinochet so gründlich durchgecheckt wurde, wird jetzt von Investoren zu einem First-Class-Sanatorium für Völkermörder und Diktatoren ausgebaut: ein halbes Jahr in den Händen britischer Ärzte und ab geht’s ins sonnige Chile, wo die Herren Ex-Diktatoren einen zweiten Frühling erleben werden. Mit diesem Programm locken die findigen Geschäftemacher nun Gäste aus aller Welt an. Slobodan Milosevic und Saddam Hussein sollen ihr Kommen schon angekündigt haben.
Allerdings gibt es noch ein Hindernis für den ganz großen wirtschaftlichen Durchbruch. Die Wirtin des Diktatoren-Refugiums, Frau Thatcher, besteht darauf, mit ihren Gästen täglich zur Teatime eine ausgiebige Konversation zu pflegen. Wegen dieser Aussicht empfinden viele Tyrannen das Schicksal Ceausescus als beneidenswert. – Solingen 4. März 2000