Glück gehabt: keine Zuteilung
Wie es sich heutzutage für einen zivilisierten Menschen gehört, habe ich letztens versucht, ins Börsengeschäft einzusteigen. Man will ja was abbekommen vom großen Kuchen.
Ich kann mich zwar nur schwer mit diesem Psychopathen aus der Consors-Werbung identifizieren, aber Berichte über gigantische Zeichnungsgewinne und das nie enden wollende Stakkato der Börsenberichte im Fernsehen hinterlassen so ihre Spuren. Außerdem nagte der blanke Neid an meiner Seele, wenn ich die DAX-Entwicklung der letzten Jahre mit meinen Sparbuchzinsen verglich. Den letzten Anstoß, ins Lotto der neuen Mitte einzusteigen, gaben schließlich Forscher vom Max-Planck-Institut, die herausgefunden haben, dass Leute, die keine Ahnung haben, an der Börse mehr Gewinn machen, als die so genannten Spezialisten. Wenig Ahnung hab ich viel, also sah ich mich schon als zweiter Kostolany in der Südsee.
Eine erste Liebe war schnell gefunden. Infineon sollte es sein. Kurzentschlossen kratzte ich mein überschüssiges Vermögen zusammen und ging zur Bank. Depot eröffnen, zeichnen und schon fühlte ich mich wie besagter Consors-Psychopath.
Wie man heute weiß, war die Entscheidung richtig, brachte Infineon doch einen rund 100prozentigen Zeichnungsgewinn. Nur habe ich davon leider gar nichts. Denn ich ging leer aus. Meine erste Reaktion war, das Depot wieder zu schließen und die Betrügerbank mit geballter Faust für immer zu verlassen, doch dann fragte ich die Frau in der Bank, was denn sonst noch so an Emissionen anstehe. Die Frau rasselte drei oder vier Namen herunter, von denen ich nur Lycos kannte. Lycos? Das ist doch diese Suchmaschine. Also Internet! Und alles, was mit Internet zu tun hat, boomt. Also zeichnete ich Lycos-Aktien.
Wie man heute weiß, war diese Entscheidung falsch. Als ich vorgestern die Zeitung aufschlage, traue ich meinen Augen nicht: Lycos floppt an der Börse. Satte 14 Prozent Zeichnungsverlust! Man konnte durch das Papier der Zeitung hindurch förmlich hören, wie sich Bertelsmann & Co. vor Lachen auf die Schenkel schlugen.
Dabei hätte ein Blick in meine Logfiles mich eigentlich warnen sollen. Da erscheint Lycos schon seit Monaten nicht mehr. Wer sucht heutzutage noch was über Lycos? Sie etwa? Eben. Diese Forscher vom Max-Planck-Institut hatten also Recht. Da ich mich ein wenig im Internet auskenne, hätte ich nie in ein Online-Unternehmen investieren dürfen!
Ich stand also starr vor Schreck mit der Zeitung in der Hand im Zimmer und dachte fieberhaft nach. Jetzt haben mir diese Betrüger ganz bestimmt Aktien zugeteilt; und wahrscheinlich noch in voller Höhe! Denn für solch einen Mist ist kein Platz in den bankeigenen Fonds. Wie sagte noch der Berater in der Betrügerbank, man sollte das Geld, das man in Aktien steckt, nicht nötig haben, damit man auch mal eine Durststrecke überwinden kann und nicht etwa Verluste realisieren muss. Also begann ich fieberhaft langfristig nachzudenken. Was wird Lycos mit dem vielen Geld tun? Ein paar kleinere Konkurrenten aufkaufen? Ein paar neue Features auf die Webseite klatschen? Irgendwas mit WAP und eCommerce installieren? Alles müde Aussichten. Meine einzige Hoffnung war schließlich, dass Lycos von irgendwem feindlich übernommen würde. Das treibt die Kurse nach oben, und ich kann dann die Looserpapiere doch noch mit Gewinn losschlagen.
Während ich immer noch mit der Zeitung im Raum stehend langfristige Spekulationsstrategien entwickelte, fiel mir plötzlich ein, dass ich ja noch gar nicht sicher sein konnte, Lycos-Aktien überhaupt zu besitzen. Also rief ich um Punkt 9.00 Uhr bei der Betrügerbank an und fragte, ob ich eine Zuteilung erhalten habe. Die Angestellte fragte nach meiner Kontonummer, klapperte auf ihrer Computertastatur herum und sagte dann: »Nein, tut mir Leid, Sie haben nichts bekommen.« »Danke«, sagte ich, legte auf und ballte die Hand zur Beckerfaust. Glück gehabt! Keine Zuteilung! Meine Gedanken wurden zusehends milder gestimmt. Vielleicht sind das doch nicht alles Betrüger bei der Bank. Obwohl. Wer weiß. Bestimmt haben die Insiderinfos über eine geplante feindliche Übernahme durch Yahoo. Das wird natürlich geheim gehalten! Ich sollte schleunigst zuschlagen, solange die Kurse von diesem totsicheren Geheimtipp noch im Keller sind. Doch während ich so die Neurosen des Pychopathen aus der Consors-Werbung pflegte, meldete sich mein Insiderwissen. Was will Yahoo mit einer Suchmaschine, die in meinen Logfiles nicht auftaucht?
So ist das an der Börse. Der Vorhang zu und alle Fragen offen. Ich investiere nur noch in Maschinenbau, Banken und Mode. Denn davon hab ich Null Ahnung. – Solingen 24. März 2000