Muss ich, oder läuft die EXPO auch ohne mich?

Die Begeisterung für die EXPO 2000 hält sich in Grenzen. Aus allen Teilen der Republik müssen die Veranstalter zur Eröffnung Jubelchinesen herbei befördern, um am Eröffnungstag einen Anflug von Fülle zu simulieren. Noch nicht einmal die Grünen können sich für die Weltausstellung erwärmen, obwohl doch das Thema »Mensch, Technik, Umwelt« auf einem grünen Parteitag hätte ersonnen werden können.

Mich erfüllt dieses Desinteresse mit tiefer Sorge, und ich stelle mir die Frage, ob es nicht meine staatsbürgerliche Pflicht wäre, zur EXPO 2000 nach Hannover zu reisen, um das finanzielle Desaster in den vorausberechneten Grenzen zu halten. Muss ich das Opfer von ein paar Hundert Mark auf mich nehmen, um mit Mann und Maus im funkelnagelneuen ICE III anzureisen, um der Bahn den Start an die Börse zu ermöglichen? Muss ich meinen Teil dazu beitragen, um unseren Freunden und Verbündeten in der Welt zu zeigen, dass man sich auf uns Deutsche verlassen kann? Und ist es nicht nachgerade meine persönliche Verantwortung für die Zukunft des Standortes Deutschland und in meinem ureigenen Interesse als Rentenanwärter, meinen Kindern zu zeigen, dass es nichts Spannenderes gibt als die Zukunft, wie uns diese nette Greisin in der Werbung seit Monaten mit ironischem Lächeln verkündet, um danach mit dem Lift gen Himmel zu fahren?

Dass die EXPO nichts mit Unterhaltung, mit Spaß und Faszination zu tun haben würde, wussten wir, seitdem Kohl die ehemalige Leiterin der Treuhandanstalt, Birgit Breuel, zur EXPO-Chefin ernannte. Da war klar, dass die EXPO eine todernste, eine nationale Angelegenheit sein würde. Denn Unterhaltungswert hatte der Ausverkauf Ost nun wirklich nicht. Nur ganz wenige Journalisten finden es überaus spannend, in den Akten der Treuhand nach Leuna-Schmiergeldern und ähnlichen Dingen zu wühlen. Aber die große Mehrheit der Bevölkerung kann nur gähnen bei dem Gedanken, dass in weniger als zehn Jahren, das gesamte Volksvermögen unserer Brüder und Schwestern im Osten hochsubventioniert durch unser aller Steuergelder an in- und ausländische Spekulanten verschleudert wurde. Und auch die seltenen Showeinlagen der Treuhand lockten kaum einen Volksaufmarsch hinter dem Ofen hervor, beschränkten diese sich doch auf ungeschickte Spatenstiche übergewichtiger Politiker inmitten blühender Landschaften, die in graue Möbelzentren verwandelt werden sollten.

Aber kehren wir zurück zur Zukunft. Natürlich bin ich als Bürger dieses Landes jederzeit bereit, Schaden vom Standort der deutschen Wirtschaft abzuhalten, und wenn die Regierung ruft, reise ich zur Not auch nach Hannover, damit wir uns nicht mit leeren Pavillons vor aller Welt blamieren, obwohl die angeblich noch weniger Interesse an der Weltausstellung haben soll, als der Nabel derselbigen.

Wir Deutsche müssen die EXPO, wie jedes Übel, endlich als Chance begreifen, denn in ein paar Monaten ist der Mantel der Zukunft schon wieder vorbeigerauscht, ohne dass wir ihn ergriffen hätten. Ein Beispiel: Deutsche Computerfirmen, die durch Leerstellenabbau den Shareholder Value pflegten, brauchen dringend gut ausgebildete IT-Spezialisten. Und wo sollten sie diese finden, wenn nicht auf der EXPO? Die Gelegenheit ist günstig. Nichts ahnend schlendern Programmierer aus aller Welt durch die EXPO-Pavillons und unterhalten sich köstlich. Firmenchefs sollten jetzt zuschlagen. Einfangen, mitnehmen und an den Rechner ketten! 400 Millionen Miese sind genug, sagte ich mir und zahlen müssen wir ja sowieso für das Defizit, warum also nicht ein wenig Zukunft schnuppern. Geschwängert von so viel nationaler Verantwortung, wollte ich mich dann gleich einmal auf der Website der EXPO über die Nebenkosten meines staatstragenden Dienstes informieren, doch ich fand allein diese rätselhafte, auch orthografisch weit in die Zukunft weisende Nachricht vor:

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Im April waren es allein über 1 Millionen Kontakte.

Allem Anschein nach ist wenigstens der Ansturm auf die EXPO-Rechner so stark, dass sie sicherheitshalber vom Netz genommen wurden. Muss ich jetzt noch nach Hannover? Oder läuft die Sache auch ohne mich? – Solingen 31. Mai 2000