Singe Gondoliere!
Kenner der Materie versichern uns immer wieder, dass es sich bei Venedig um eine richtige Stadt und kein Potemkinsches Dorf handelt. Hinter den Fassaden der Paläste sollen tatsächlich städtische Beamte vor sich hin dösen, Croupiers die Kugel rollen lassen oder Versicherungsangestellte geschickt formulierte Ausschlussklauseln austüfteln. 70.000 Venezianer sollen noch in der Lagune leben. 3000 verlassen jedes Jahr das sinkende Venedig, um sich auf dem sicheren Festland anzusiedeln. Schon gibt es eine Insel, die völlig unbewohnt ist, seitdem man den letzten Bewohner mit der Trauergondel hinüber zur Friedhofsinsel gerudert hat. Nun hat irgendein Berlusconi die Insel mitsamt den Häusern gekauft, um dort ein Ferienzentrum zu errichten.
Die Hartnäckigkeit, mit der die Venezianer den Eindruck aufrechterhalten wollen, dass es sich bei Venedig um eine Stadt und nicht um das weltgrößte Freilichtmuseum handelt, ist schon bemerkenswert. So verzichten sie z. B darauf, Eintritt zu verlangen. Der Besuch Venedigs ist kostenlos! Sogar in die Basilika von San Marco kommt man wie in eine echte Kirche kostenlos hinein. Dieses kundenfreundliche Verhalten ist für den Besucher zwar angenehm, für die Angestellten des weltgrößten Erlebnisparks ist es aber eine große Belastung. Die Animateure des Event-Museums werden z. B. nicht etwa dafür bezahlt, dass sie in den heruntergekommenen, feuchten Gebäuden hausen müssen. Nein, sie müssen dafür ›Miete‹ zahlen, die ebenso überteuert sein soll wie eine Originalflasche Coca-Cola in einem Restaurant auf dem Markusplatz.
Um die Täuschung perfekt zu machen, hat die Venedig GmbH eine amerikanische Schriftstellerin als Stadtschreiberin engagiert, die sich am laufenden Band Kriminalgeschichten ausdenkt, die nur in einer richtigen Stadt, niemals aber in einem Museum, passieren können und von einem gewissen Commissario Brunetti (einem Venezianer!) gelöst werden.
Da die Venedig GmbH keinen Eintritt verlangt, ist so gut wie jede Attraktion kostenpflichtig, sogar der Gesang der Gondolieri, insbesondere dann, wenn er direkt aus der Kehle eines dieser bunt ausstaffierten Bootsführer kommt und nicht vom Band ertönt. Der hohe Preis für die Live-Animation an Bord der Gondeln wird nicht etwa mit der künstlerischen Qualität begründet, sondern damit, dass singende Gondolieri hohe Steuern zahlen müssen. Ob es sich dabei um eine Vergnügungssteuer oder eine umweltpolitische Emissionssteuer handelt, war nicht ausfindig zu machen.
Bei unserem Besuch in Venedig sahen wir jedenfalls nur einen singenden Gondoliere. Das Besondere an ihm war, dass er die Gondel nicht selbst ruderte, sondern von einem anderen Gondoliere rudern ließ. Der Sänger stand vor den Gästen, einem japanischen Ehepaar und sang mit kraftvoller Stimme die üblichen traurigen Lieder. Einige Gondeln, ebenfalls mit Japanern besetzt, hatten sich zu ihm gesellt und lauschten angeregt seiner gesanglichen Darbietung. Der Sänger war stämmig und trug eine große schwarze Sonnenbrille, die ihn ein wenig aussehen ließ wie Onassis. Mit eleganten Handbewegungen unterstrich er die Worte, die weder die Japaner noch ich verstanden.
Das wirklich Traurige an Venedig ist, dass zwischen den Unmassen von Touristen überall noch ein letzter Rest echter Atmosphäre hervorlugt, der jedoch Venedig um so unwirklicher macht. So unwirklich wie kein Disneyland jemals sein kann. Man weiß eigentlich nie so recht, wo man war, wenn man in Venedig war. Die Gondel ist echt, der Gesang ist echt und die Touristen sind echt. Aber das, was sie zusammenführt, das ist falsch, denn es ist nicht die vergangene Größe Venedigs, die die Touristen anlockt, es ist die tradierte Verabredung, gemeinsam das Erlebnis Venedig zu zelebrieren. Insofern ist es nur konsequent, wenn in Las Vegas Venedig und nicht etwa eine wirkliche Stadt nachgebaut wird.
Abends erlebt man dann ein weiteres Schauspiel, mit dem die Venezianer aller Welt zeigen wollen, dass Venedig eine wirkliche Stadt ist, eine Stadt, deren Preis berechtigt ist, da sie vom Untergang bedroht ist. Angeblich soll der Schirokko Auslöser dieser letzten abendlichen Touristenattraktion sein, aber ich vermute einen hydraulischen Trick der Parkverwaltung dahinter. Heute Abend jedenfalls drückte der Schirokko das Wasser der Lagune in die Stadt hinein. Von unten wurde es durch die Gulliöffnungen auf dem Markusplatz, der bekanntlich auf mehreren Millionen Holzpfählen errichtet wurde, nach oben gedrückt und überschwemmte ihn. Die letzten Touristen, die noch in den teuren Cafés saßen, flohen um keine nassen Füße zu bekommen. Die Geschäfte ringsum in den Arkaden installierten eilig ihre Wassersperren und die Kellner räumten die Tische zusammen. Sperrstunde, letzte Runde! Die Tore des Museums schließen in einer Stunde! Begeben Sie sich bitte zum Ausgang!
Singe uns, Gondoliere, vom Untergang der Stadt!
Torri del Benaco, 11. Juli 2000*