Wem gehört die Einheit?
Das Widerwärtige an Helmut Kohl ist, dass er alles und jeden für seinen persönlichen Machterhalt instrumentalisiert hat – auch die deutsche Einheit. Das allein ist schon so ziemlich das Gegenteil von dem, was wir uns unter einem Staatsmann, der sich für sein Volk einsetzt, vorstellen. Doch bei Kohl kommt es, wie sollte es auch anders sein, noch dicker. Sein persönliches Ziel war es immer, unantastbar zu werden; ein Charakterzug, der nicht von ungefähr kommt, sondern seine Wurzeln in der Tradition der CDU hat. Und tatsächlich zeichnet sich dieses Verhaltensmuster schon lange vor dem Fall der Mauer ab.
Der Feind steht links
Schon bei der zweiten Bundestagswahl profitiert die CDU von Ereignissen in der DDR. Durch die blutige Niederschlagung des Arbeiteraufstands vom 17. Juni 1953 kann sie ihren Kurs der Abgrenzung, ihre »Politik der Stärke« wunderbar legitimieren.
Spätestens im Wahlkampf 1957 wird der Feind dann im Innern geortet. Ein Wahlsieg der SPD, so behauptet Adenauer, bedeute den Untergang Deutschlands. Seither ist das Vokabular der CDU nicht nur in Wahlkämpfen von martialischen Entgleisungen geprägt, die alle darauf abzielen, den politischen Gegner als Feind, als von Moskau gesteuerte Vaterlandsverräter darzustellen und sich selbst als einzig legitime Volkspartei zu präsentieren.
Doch sie hat damit nicht ewig Erfolg. Die SPD reformiert sich nach den vielen verlorenen Wahlkämpfen 1959 durch ihr »Godesberger Programm« und wird damit zur konkurrierenden Volkspartei in Westdeutschland.
Wahlverwandtschaft oder Die Kontinuität der Unantastbarkeit
Helmut Kohl fühlt sich bekanntlich als Enkel Adenauers, und einige Aussprüche des Alten könnten auch von ihm sein, wenn er denn mehr Humor hätte. »Natürlich achte ich das Recht; aber auch mit dem Recht darf man nicht so pingelig sein.« Oder: »Mein Gott, was soll aus Deutschland werden, wenn ich nicht mehr da bin.«
Was nach dem Tode Adenauers aus der Bundesrepublik wurde, ist mittlerweile bekannt. Westdeutschland bekommt einen Kanzler, dem Aufrichtigkeit und Integrität mehr gelten als die Macht. Willy Brandt verkörpert wie kein anderer Politiker ein besseres Deutschland. Und er macht sich gleich daran, die Spaltung Deutschlands zu überwinden, was ihm aus den Reihen der CDU, postwendend den Vorwurf des Landesverrats und aus den Händen des schwedischen Königs den Friedensnobelpreis einbringt.
Die Gnade der späten Geburt
Die Wahlkämpfe der CDU sind dann auch als Oppositionspartei fast immer geprägt von einer Verunglimpfung des politischen Gegners. »Freiheit statt Sozialismus« wer könnte diesen Schlachtruf gegen die aus Moskau gesteuerte Sozialdemokratie jemals vergessen?
Doch die CDU bekommt Probleme. Die Zeiten haben sich gewandelt und die Öffentlichkeit fragt immer kritischer nach, wenn es darum geht, die Vergangenheit von CDU-Mitgliedern zu beleuchten. 1968 wird Kurt Georg Kiesinger von Beate Klarsfeld wegen seiner Nazi-Vergangenheit geohrfeigt. 1978 tritt der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Hans Filbinger, zurück. Er hatte noch in den letzten Kriegstagen als Marinerichter Todesurteile gefällt.
Helmut Kohl zieht aus der veränderten Sensibilität der Öffentlichkeit seine ganz persönliche Konsequenz und prägt das geflügelte Wort von der »Gnade der späten Geburt«. Damit stößt er alte Nazis und neue Rechte in den eigenen Reihen nicht vor den Kopf, da er die persönliche Schuld von Kriegsverbrechern zu historischer Schicksalshaftigkeit stilisiert, und macht gleichzeitig den Weg frei, um tote SS-Soldaten zu ehren.
Die Dämonisierung des politischen Gegners will jedoch nicht mehr so recht gelingen. Im Gegenteil, Kohl hat in den ersten Jahren viel zu viel mit seinem Birne-Image zu kämpfen, als dass er den Sozialdemokraten Landesverrat, Verfassungsbruch oder sonst eine Schweinerei vorwerfen könnte.
Der Feind ist schwarz
Da Kohl wegen seines Koalitionspartners mittlerweile die Entspannungspolitik Willy Brandts fortführen muss, stumpft das Schwert des Kommunismusverdachts im Inneren überhaupt ziemlich ab. Doch Helmut Kohl, die CDU und befreundete Medien entdecken einen neuen Gegner, mit dem man den Untergang Deutschlands an die Wand malen kann: die Ausländer. Der Feind steht nun nicht mehr links, sondern ist schwarz und kommt als Asylbewerber aus Afrika daher. Doch zur persönlichen Profilierung eignet sich die schmutzige Anti-Asylkampagne der CDU in den späten 80er Jahren nur schwer und so überlässt es Kohl vor allem der zweiten Garnitur, die Ausländerfeindlichkeit anzustacheln, um die SPD für Durchrassung, Ausländerkriminalität und Überflutungsszenarien verantwortlich machen zu können.
Doch Kohls Zeit läuft ab. Eine latent ausländerfeindliche Stimmung wird zwar geschürt, doch sie drückt sich nicht in Wählerstimmen aus. Der politisch interessierte Teil der Gesellschaft beschäftigt sich vielmehr mit grundsätzlichen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Reformen.
Der Volkstribun
Das Pendel will gerade in Richtung auf eine rotgrüne Erneuerung auszuschlagen, da erschüttert ein historisches Ereignis die fein austarierten Kräfteverhältnisse in der Bundesrepublik. Die Mauer fällt. Helmut Kohl erkennt sofort die Chance, die sich da für seinen persönlichen Machterhalt bietet. Endlich kann er in die großen Schuhe seines geistigen Großvaters schlüpfen, ohne lächerlich zu wirken. Ohne ideologische Hemmungen instrumentalisiert er die Blockflötenpartei CDU, stattet sie mit Schwarzgeld aus der Schweiz aus und fährt mit ihr bei den ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR einen überraschenden Wahlsieg ein.
Die enteignete Revolution
Nach den Volkskammerwahlen wird vielen, die am 9. November vor Freude geweint haben, klar, dass die Einheit Deutschlands nur um den Preis zu haben ist, Kohl weitere vier Jahre ertragen zu müssen. Die Euphorie vieler Westdeutscher kühlt damit merklich ab. Kopfschüttelnd schaue ich auf die Massen, die vor wenigen Wochen noch gerufen haben: »Wir sind das Volk!«. Nun feiern die »Helden von Leipzig« Helmut Kohl als ihren Volkstribun.
So sehr ich damals das Verhalten der Ostdeutschen vom Kopf her verstehe, es stößt mich ab und vermiest mir die Freude an der Einheit. Kohl braucht gar nicht mehr zu regieren, er muss bloß noch die Wünsche der Demonstranten nach D-Mark und westdeutschem Pass möglichst schnell erfüllen, um sich als »Kanzler der Einheit« für den politischen Gegner ein für allemal unantastbar zu machen. Von 1989 bis 1990 regiert die Straße in ganz Deutschland. Doch Kohl wagt nur soweit mehr Straßendemokratie, wie sie ihm nützlich erscheint. Dass es ihm jedoch auf eine wirkliche vom Volk gemeinsam getragene »Wiedervereinigung« gar nicht ankommt, wird deutlich, als er die Präambel des Grundgesetzes einfach links liegen lässt und das ganze Deutsche Volk nicht in freier Selbstbestimmung über eine eigene Verfassung abstimmen lässt, sondern die Einheit mit einem Verwaltungsakt, dem Beitritt zum Bundesgebiet, herstellt.
Die Einheit soll als Show, als nationales Medienereignis über die Bühne gehen, mit ihm als Regisseur, Produzent und Hauptdarsteller. Alle, die vor Fehlentwicklungen warnen, stempelt er zu Verrätern der Einheit.
Für alle Zeit heiliggesprochen?
Für viele Jahre gelingt es Kohl sakrosankt zu werden. Unantastbar geworden, kann er in der eigenen Partei schalten und walten, wie er will. Heute, nachdem alle wissen, dass Helmut Kohl schon immer glaubte, über allen Gesetzen zu stehen, und selbst ein Verfassungsbruch für ihn bloß ein Kavaliersdelikt ist, wenn er damit seine Macht absichern kann, versucht er immer noch aus der Einheit Deutschlands für sich persönlich Kapital zu schlagen.
Sein Vorwurf, außer Willy Brandt (ihm kann selbst ein Kohl nicht ans Bein pinkeln!) habe die gesamte Linke die Wiedervereinigung nicht gewollt, zeigt jedoch nur, wie tief er in Wirklichkeit im September 1998 gefallen ist. Es ist schon sehr erbärmlich, wie ein waidwunder Papst den Vorwurf der Häresie hervorzukramen und seinen Gegnern die Exkommunikation entgegen zu schleudern, um eigene Fehler zu übertünchen.
Das wirkt mittlerweile so peinlich, dass selbst Weggefährten, die wie Genscher für ihren persönlichen Machterhalt auch schon über Leichen gegangen sind, Kohl anfangen zu kritisieren.
Die Einheit wird vergesellschaftet
Es ist mehr als bloß eine persönliche Animosität des sächsischen Ministerpräsidenten und Königs, Kurt Biedenkopf, Helmut Kohl nicht als Redner zur Einheitsfeier einzuladen. Biedenkopf kommt damit dem Wunsch vieler Deutscher entgegen, die Einheit Deutschlands endlich zu vergesellschaften. Oder in Kohlscher Manier ausgedrückt: Die Einheit wird allmählich den Menschen auf den Marktplätzen zurückgegeben. Das ist natürlich nicht einfach und es wird Zeit brauchen.
Historische Aneignung notwendig
Es mag sich für alle, die die Einheit miterlebt haben, komisch anhören, aber ich glaube, wir müssen beginnen, uns die Geschehnisse historisch anzueignen. Wir müssen den Fall der Mauer als wichtigen Höhepunkt in einem historischen Prozess verstehen, der vielleicht 1980 mit der Gründung der Solidarność, der ersten freien Gewerkschaft in einem sozialistischen Land, beginnt und mit der Erweiterung der Europäischen Union immer noch fortwirkt. Kohl wollte auch die Europäische Einigung für sich persönlich ausschlachten, doch dieser Schuh war dann für einen Mann endgültig zu groß.
Bei der historischen Aneignung werden die Medien natürlich wieder eine wichtige Rolle spielen. Aber sie haben jetzt die Möglichkeit, aus der Distanz heraus, die Dinge differenzierter und in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Die Geschichtsschreibung darf dabei die Emotionen natürlich nicht verdrängen.
Halten wir das Glück des 9. Novembers fest und überwinden wir den Schatten, den Kohl über die Einheit geworfen hat. Kohl ist am Ende.
Deutschland aber ist immer noch vereint. Wenn das kein Grund zur Freude ist!
Und die Lehre für Europa?
Europa aber kann immer noch scheitern. Und wirklich tragisch wäre es, wenn Europa an der Demokratie scheitern würde, die viele Länder erst vor zehn Jahren für sich errungen haben. Europa hat keine Bananen, die es in die Menge werfen könnte, und eignet sich deshalb auch nicht für die Demokratie der Straße. Europa ist ein ganz dickes Brett, das gegen die Bürokraten in Brüssel und gegen die Populisten in den Provinzen gebohrt werden muss. In Europa wächst das, was zusammen gehört, ganz langsam zusammen. Darin liegt auch eine Chance. Die Gefahr, dass ein Kohl sich als Kanzler, Präsident oder Premierminister der europäischen Einheit aufspielt, ist denkbar gering. – Solingen 3. Oktober 2000