Literaturnobelpreis für Kohl
Was macht ein Ex-Staatsmann, den es immer noch wurmt, dass Willy Brandt und nicht er für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze den Friedensnobelpreis erhalten hat? Er peilt zielstrebig den Literaturnobelpreis an und schreibt ein Tagebuch. Und da politisch verfolgte Schriftsteller größere Chancen auf den begehrten Preis haben, beginnt Kohl mit der Veröffentlichung seiner bitteren Leidensgeschichte pünktlich zum Writers-in-Prison-Day am 15. November 2000. Nur eine Zeitung hatte den Mut, seine Zeilen zu drucken, die WELT, das letzte unzensierte Blatt in Deutschland.
Was wir dort über die Leiden des alten Kohl lesen, ist wirklich zum Steine-Erweichen. Jahrzehntelang wurde er von seiner Partei hinters Licht geführt. Da lesen wir von seiner tiefen Bestürzung, als Kiep verhaftet wurde und er erstmals von Schreibers Millionenspende erfuhr. Dank seiner genialen Bildsprache können wir uns seine Wut über die hessischen Geheimkonten anschaulich vorstellen. Es muss für ihn wie ein Schlag in die Saumagengrube gewesen sein, zu erfahren, dass da auch Gelder an ihm vorbei in die Partei geschmuggelt wurden. Da kann man als Leser die Tränen kaum zurückhalten. Man möchte ihm sofort tröstend zurufen, dass auch andere von ihren eigenen Leuten hintergangen worden sind: Honecker, Maos Witwe und altersschwache Paten sowieso.
Mit Entsetzen hören wir von seiner wiederholten öffentlichen Hinrichtung in den Medien. Als wären wir in Texas, China oder dem Iran schlägt man ihm in zahllosen Wiederholungen wie einer Hydra immer wieder den Dichter- und Denker-Kopf ab, um ihn, den letzten kritischen Schriftsteller Oggersheims, zum Schweigen zu bringen. Dabei will er doch gar nicht auspacken. Doch hören wir den verfolgten Romancier selbst:
»Einst gefeiert, jetzt gejagt von den politischen Gegnern, von Teilen der Medien, den parteiinternen Kritikern, zum Teil sogar von ehemaligen Freunden. So ist meine Situation. Man frage mich bitte nicht, wie das auszuhalten ist. Es ist ein traumatisches Erlebnis. Die Zahl der so genannten guten Freunde sinkt täglich. (…) Vertreter so genannter gesellschaftlicher Gruppen meiden mich. Repräsentanten der deutschen Wirtschaft, allen voran die großen Bosse, die viele Jahre um meine Gunst bemüht waren, versuchen sich in großer Geschwindigkeit von mir zu distanzieren und zu neuen Ufern zu gelangen. Es könnte einem übel werden.«
Ist es da nicht besonders ergreifend, zu sehen, wie er sich ritterlich vor die bösen Bosse stellt, die ihm einst die geruchslosen Millionen zusteckten? Jeden Tag wendet sich der brutalstmögliche Tagebuchschreiber in seinem Oggersheimer Exil vereinsamt an sein liebes Tagebuch und schildert der ganzen WELT, wie verschlagen ihn Biedenkopf schon immer zu Fall bringen wollte, wie hinterlistig ihn Schäuble und die Ossi-Hexe gemeinsam absägten und wie unschuldig er knietief im Spendensumpf steht.
Der nächste Literaturnobelpreisträger kann nur Helmut Kohl heißen. Grass ist gegen ihn ein unpolitischer Idylliker. Böll ein Schurke ohne Moral. Nur einer könnte ihm den Preis noch streitig machen. Nein, nicht Biedenkopf mit seiner professoralen Prosa. Auch nicht Laurenz Meyer mit seiner neo-dadaistischen Lyrik (»Wir brauchen gemeinsam, dass der Ruck, der sich gefunden hat in den letzten Monaten, sich jetzt festsetzt«). Nur ein gestandener Ex-US-Präsident hat eingesperrt zwischen Macht und Mösen das Zeug in der Hose, um Kohl noch auszustechen. – Solingen 21. November 2000