Blitzkrieg und Vergeltungsschläge
Krieg wird gemeinhin als Fortführung der Politik mit anderen Mitteln bezeichnet. In Wirklichkeit verhält es sich jedoch gerade umgekehrt. Politik ist die Eskalation des Krieges auf alle Lebensbereiche. Wer sich die unsägliche Mühe macht, das politische Geschehen in unserem Lande zu verfolgen, wird das schnell bestätigen können. Nirgendwo erblicken wir, was wir nach den Lehrbüchern der Sekundarstufe II für politische Bildung eigentlich erblicken müssten: nichts von demokratischer Willensbildung, an der ein paar Parteien lediglich teilhaben, niemand da, den man als Volksvertreter bezeichnen könnte, nirgends hören wir von einem gepflegten parlamentarischen Gedankenaustausch, nie können wir Versprechungen Glauben schenken. Nichts Niemand Nirgends Nie.
Stattdessen wird Politik für jedermann sofort verständlich, wenn man ein Handbuch des Krieges studiert oder sich im Fernsehen auf die Kriegsberichterstattung konzentriert.
Adolf Hitler hat bekanntlich den Europäern den Blitzkrieg beigebracht. Und in den letzten Wochen konnten wir in der europäischen Politik einen wahrhaft fulminanten Blitzkrieg live miterleben. Kaum war eine deutsche Kuh BSE-positiv getestet, schon war die Fleischmafia mit ihren perversen Mastmethoden überrannt und geschlagen. Sieg auf der ganzen Linie. Das Tiermehl war so schnell verboten, dass den Lobbyisten keine Zeit blieb, mit ihren Mantra-Gesängen anzuheben, mit denen sie Politiker und Verbraucher gewöhnlich einlullen.
Unklar ist im Moment nur, wer bei diesem zehntägigen Feldzug oberster Feldherr war: Gerhard Schröder oder Andrea Fischer. Landwirtschaftsminister Funke war es ganz bestimmt nicht. Er hat, als er den Aufmarsch vor den Grenzen seines Ministeriums erblickte, der Armee lieber gleich den freien Durchmarsch garantiert, um nicht selbst unter die Räder zu kommen. Und – was bisher selten genug der Fall war – ganz Europa stellte sich wie ein Mann auf die Seite der Deutschen und lieferte den Siegern auch prompt die eigenen Tiermehlhersteller ohne großen Widerspruch aus.
Jetzt soll aber niemand glauben, dass einer rotgrünen Regierung der Hang zum Blitzkrieg in die Wiege gelegt worden sei. Das war schon ein langer und schmerzhafter Lernprozess! Wie soll man sich heutzutage auch gegen mächtige Lobbyverbände und den Weihnachtsbraten durchsetzen, wenn nicht durch eine Taktik, bei der man so schnell zuschlägt, dass der Gegner glaubt, noch alle Trümpfe in der Hinterhand zu haben, obwohl er längst tot ist. Im Sommer hat die Regierung die Taktik erstmals erfolgreich gegen Kampfhunde und Hundehalter angewendet. Und nach diesem seltenen Erfolgserlebnis hat man sich dann bei erstbester Gelegenheit an die unbesiegbare Landwirtschaftslobby herangetraut: seit neulich wird zurückgeschossen.
Doch die Regierung verfügt noch über ganz andere kriegerische Taktiken. Lange bevor man den Blitzkrieg beherrschte, hatte man bei der Führung von Guerillakriegen eine gewisse Virtuosität erreicht. Der Sieg von Rotgrün gegen die Atomlobby kann eigentlich nur mit dem Triumph des Vietkongs über die Amerikaner oder mit Castros Sieg auf Kuba verglichen werden, weshalb die Verpackung für Atommüll ja auch Castro-Behälter genannt wird.
Doch unsere Regierung hat nicht nur von Leuten gelernt, vor denen unsere Christdemokraten ein Kreuzeszeichen machen, nein sie haben auch den Israelis etwas abgeguckt: den Vergeltungsschlag. Jedesmal wenn ein junger Palästinenser sich mit einer Bombe in einem Bus in die Luft sprengt, starten israelische Kampfhubschrauber, um als Vergeltung die in jahrelanger Handarbeit erbauten ärmlichen Wohnhäuser seiner Verwandtschaft, angefangen bei Vätern und Onkeln bis hin zu Schwippschwägern dritten Grades, in Schutt und Asche zu legen. Damit soll den älteren Palästinensern Nachhilfeunterricht in Erziehungswissenschaft erteilt werden.
Diese Taktik wendet seit einiger Zeit Riester, seines Zeichens Arbeitsminister und zuständig für die Rente, gegen selbstständige Lehrer an. Diese haben ihm zwar ebensowenig getan wie die Väter, Onkel und Schwippschwäger den Israelis, aber bei Vergeltungsschlägen muss man eben mit dem Vorlieb nehmen, den man kriegen kann. Riesters Archivare bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) haben ein Gesetz aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts ausgegraben, welches weder von den Nazis noch von den Entnazifizierern außer Kraft gesetzt wurde, sondern schlicht und einfach in Vergessenheit geriet. Ich rede vom Hauslehrergesetz aus dem Jahre 1922. Nach diesem Gesetz sind alle selbstständigen Lehrer, Trainer und Seminarleiter per definitionem rentenversicherungspflichtig. Das allein wäre schon ein Freudenfest für Riester. Aber besonders erfreut waren die Beamten der BfA über die Möglichkeit, nicht nur wie die Israelis Vergeltung zu üben, sondern, die Vergeltung mit national- und sozialistischen Enteignungmethoden kombinierend, durch horrende Nachzahlungsforderungen auch gleich das Vermögen der Lehrer zu konfiszieren. Seit Anfang des Jahres konfrontiert die BfA selbstständige Lehrer fleißig mit Nachzahlungsforderungen, nicht selten in Höhe von 50.000 DM. Da kann man sich vorstellen, dass eine Lehrerin, die halbtags Ausländer und Aussiedler an der VHS oder einem anderen privaten oder gemeingefährlichen Bildungsträger in Deutsch unterrichtet, sich mit palästinensischen Frauen, die vor den Trümmern ihres Hauses stehen, durchaus solidarisieren kann. Den 35.000 Lehrern (35.000 × 50.000 DM = 1.75 Mrd. DM!) bleibt nichts anderes übrig als ihr hoch verschuldetes Haus entweder zu verkaufen oder erst gar nicht zu bauen und sich in den deutschen Urwald zurückzuziehen, um als Guerilleros gegen Riester zu marschieren. Es lebe die Revolution! – Solingen 10. Dezember 2000