Heinrich und Daniel
Heute vor 145 Jahren ist Heinrich Heine im französischen Exil gestorben – Daniel Cohn-Bendit dagegen, der Heinrich Heine des 20. Jahrhunderts, ist Europaabgeordneter der französischen Grünen, sein Freund Joschka Fischer ist deutscher Außenminister. Man könnte meinen, die Geschichte habe mit der ihr eigenen Ironie der Revolution zum Sieg verholfen. Doch wer sich den Lebenslauf von Daniel Cohn-Bendit einmal genauer ansieht, der merkt, dass sich die Geschichte erst sehr spät entschlossen hat, ironisch zu werden. Vorher konnte sie einen um den Schlaf bringen.
Denn zu einem europäischen Bastard, wie Cohn-Bendit sich selbst manchmal nennt, wurde er durch Hitler, dem Kulminationspunkt des Spießbürgers und Nachfolger Metternichs an der Spitze Österreichs. Ohne die antisemitische Vernichtungswut der Nazis hätten Daniels Eltern nicht aus Berlin nach Frankreich fliehen müssen. Er wäre nie in Paris aufgewachsen, hätte nie als Studentenführer an den Maiunruhen 1968 in der französischen Hauptstadt teilgenommen und wäre deshalb auch nie aus Frankreich ausgewiesen worden. Er wäre nie nach Frankfurt gekommen, hätte nie mit dem zukünftigen Außenminister eines wiedervereinigten Deutschlands zusammengewohnt, wäre nie Dezernent für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt geworden und wäre vermutlich nie – nun wiederum als französischer Grüner – als Abgeordneter ins Europäische Parlament eingezogen.
Bis sich die Geschichte zu dieser Ironie durchringen konnte, vergingen viele schlaflose Nächte, in denen sich Cohn-Bendit, an seine beiden Vaterländer denkend, im Bett wälzte. Die Geschichte aber ist noch viel ironischer, als wir uns dies wünschen. Denn dass Cohn-Bendit heute nicht in einer Matratzengruft vegetieren muss, ist nicht nur seiner besseren Konstitution zu verdanken, sondern hauptsächlich der Globalisierung der Wirtschaft. Das Kapital hat für das dümmliche Ressentiment des Spießbürgers keine Zeit, es will sich grenzenlos akkumulieren, so dass die Metternichs und Hitlers ihre Gehässigkeit zumeist nur am Stammtisch ausleben können. Oder indem sie Joschka Fischer wegen uneidlicher Falschaussage anzeigen: ein Schachzug der Konservativen, der wieder einmal daran erinnert, dass Dummheit und Hass unausrottbar sind.
Heinrich Heine hat das Wort ›Deutschland‹ in seinen Schriften häufiger benutzt als so mancher deutschnationale Kolumnist. Daniel Cohn-Bendit dagegen spricht selten von Deutschland, seltener als Wolf Biermann, der sehr gerne Heine zitiert, denn die Probleme, die Cohn-Bendit beschäftigen, sind europäische.
Es lohnt sich immer, die deutschen Verhältnisse von jenseits des Rheins aus zu betrachten. Die Niveaulosigkeit der aktuellen Debatte über die 70er Jahre offenbart sich in ihrer ganzen Trostlosigkeit erst aus der Ferne. Zum Beispiel aus dem Blickwinkel der 70 französischen Politikjournalisten, die Joschka Fischer zum ›Europäer des Jahres‹ kürten. Eine Auszeichnung, die auch dann noch eine Ehre bleibt, wenn man bedenkt, dass der letzte deutsche Preisträger sich gerade für 300.000 DM von einer Vorstrafe wegen Untreue zu Ungunsten einer Partei mit zweifelhaftem Ruf freikaufen muss und den Makel der Bestechlichkeit wohl kaum je loswerden wird. Eine Ehre und ein gutes Zeichen, denn mit Fischer wurde nicht nur ein Außenminister geehrt, der Selbstverständlichkeiten über Europas Zukunft ausspricht, sondern auch, vielleicht ungewollt, die europäische Gemeinschaft des bürgerlichen Ungehorsams. Lange bevor die Klatschreporter der Wirtschaftsseiten das Wort Globalisierung richtig buchstabieren konnten, haben die 68er und ihre ökologischen Nachfolger in den 70ern global gedacht und lokal gehandelt.
Das alles sollte uns aber nicht täuschen. Die miesen Spendenempfänger und Leitkulturbeutelbenutzer, die dümmlich-gehässigen Spießbürger und Befehlsempfänger, die einem Heinrich Heine den Schlaf raubten, die Cohn-Bendits Eltern aus Berlin und ihn selbst aus Frankreich vertrieben und die den ersten grünen Außenminister mit Vorwürfen, die man bestenfalls skurril nennen kann, zu Fall bringen wollen, sie alle gibt es noch. Schlafen kann ich, wenn ich tot bin, sagte Rainer Werner Fassbinder, den sie heute für seinen ›Deutschland im Herbst‹-Beitrag sicher ebenfalls gerne anzeigen würden. Wir sollten uns an ihm ein Beispiel nehmen und uns kein selbstzufriedenes Nickerchen gönnen, denn der Feind schläft ganz bestimmt nicht. – Solingen den 17. Februar 2001