Das Ende des demokratischen Traums
Demokratie ist das offene Eingeständnis, dass der Mensch weder ein soziales noch ein vernünftiges Wesen ist. Wäre er vernünftig, bräuchte man keine Mehrheitsentscheidungen, und wäre er sozial keinen Wechsel der Regierung. Der Wille der Mehrheit zielt nie auf das Vernünftige, sondern immer nur auf das vordergründig Vorteilhafte. Und da keine Regierung ihren Verfassungseid ernst nimmt, ist der Schaden, den sie eigentlich abwenden soll, nur dadurch zu begrenzen, dass man ihre Regierungszeit begrenzt.
Doch die Demokratie ist immer nur auf lange Sicht gesehen vorteilhaft. Kurzfristig ist sie wie kaum eine andere Regierungsform in der Lage, die schlechtesten Eigenschaften eines Volkes besonders deutlich hervorzukehren. Und im Moment scheint dies mal wieder der Fall zu sein, falls es denn jemals anders war.
Der SS-Verehrer Haider in Österreich, der Kriegsverbrecher Putin in Russland, der Henker George Bush in den USA und nun der Mafialiebling Berlusconi in Italien: sie alle sind von der Mehrheit ihrer Völker in freien Wahlen ins Amt gewählt worden.
Während die EU Österreich wegen der bloßen Teilnahme von Haiders Partei an der Regierung eine Zeit lang gängelte, hält sich die Empörung gegenüber Italien in Grenzen. Angesichts der 54 Nachkriegsregierungen in Italien betrachtet man die Italiener wohl generell als politisch unmündige Fernsehzuschauer, von denen das Naheliegende, nämlich die Wahl eines TV-Moguls jederzeit erwartet worden ist. Genauso schnell wie sie ihn nach oben jubelten, werden sie ihn, so die Überzeugung der restlichen Europäer, aus dem Amt jagen. In den Kommunalwahlen bekam sein schillerndes Bündnis auch schon einen ersten kleinen Dämpfer. Und falls die Staatsanwälte in Italien ihren Job ernster nehmen als die deutschen Staatsanwälte, wird der italienische Ministerpräsident vielleicht bald vor Gericht stehen.
Wenn man dem Volk die Wahl lässt, sind Fehlgriffe eher die Regel. Der Schaden wird lediglich dadurch begrenzt, dass man dem Volk alle vier oder fünf Jahre dieselbe Frage erneut stellt: Von welchem Trottel oder welchem Verbrecher willst du in den nächsten Jahren regiert werden? Und obwohl so mancher Regierungschef keine 1000 Jahren braucht, um einen ganzen Erdteil in Schutt und Asche zu legen, entsteht echter Schaden nur dann, wenn sich ein Volk 16 Jahre lang für den Gleichen entscheidet.
Der Wechsel ist das Wesen der Demokratie, heißt es so schön. Und dieser stetige Wechsel hat vor allem zur Folge, dass jeder neue Regierungschef zunächst glaubt, die Trümmer der alten Regierung aus dem Weg räumen zu müssen, um dann umso freier einen Scherbenhaufen zu hinterlassen. Kohl war auch hier eine Ausnahme, er hinterließ zumindest im Kanzleramt nichts.
Wenn also die Demokratie keine Fortschritte zu Stande bringt, da die Regierungschefs entweder Trottel oder Verbrecher sind, die, wenn es gut geht, nach vier Jahren wieder verschwinden, dann muss man sich fragen, was überhaupt die politische Welt im Innersten zusammenhält. Nach eifrigem Überlegen habe ich die beiden Kerne des Pudels gefunden: es sind die Blutrache und die Bürokratie.
Die Furcht vor der Rache des politischen Gegners mahnt den Wahlsieger zur Vorsicht. Und Vorsicht kostet bekanntlich Zeit, so dass weniger Zeit für Torheiten und Verbrechen bleibt. Im Grunde ist es sogar ehrenvoll, nach vier Jahren vom politischen Gegner ausgestochen zu werden; andere, die sich an der blinden Verehrung ihres Volkes berauschen und sich wie ein sächsischer König fühlen, müssen es nun ertragen, von ihren Freunden hinterrücks erdolcht zu werden.
Das andere Heilmittel gegen die Wahllosigkeit des Wahlvolkes ist die Bürokratie, die jedem Trottel und Verbrecher schnell schwere Fesseln anlegt, damit dieser nur kleine Gaunereien begehen und jener nicht allzu sehr über die Stränge schlagen kann.
Blutrache und Bürokratie gehen zuweilen eine für die Völker sehr fruchtbare Verbindung ein. Besonders die Gewaltenteilung, für die wir Montesqieu täglich danken sollten, befördert die Grundprinzipien des menschlichen Zusammenlebens. Die Trennung der Gewalten führt nämlich dazu, dass oft auch zwischen den Wahlen eine Art permanenter Blutrache herrscht und so mancher Alleinherrscher über sein Hauspersonal stolpert. Dass die Gewaltenteilung nicht immer funktioniert, ist übrigens kein Argument, sie abzuschaffen. Nur weil sich die deutschen Staatsanwälte an Kohl nicht rächen wollen, heißt das noch lange nicht, dass sie völlig überflüssig sind. Jeder kann bekanntlich noch als abschreckendes Beispiel dienen.
Montesqieu war ein Realist, der selbst einer demokratisch gewählten Regierung nichts Gutes zutraute und ihr deshalb möglichst viele Steine in den Weg legen wollte. – Solingen den 16. Mai 2001