Das Leben der Niere Saskia
Die Stammzellenforschung verhilft abgetriebenen Embryonen zu einem teilweise menschenwürdigen Leben: als Ersatzniere.
Wenn die Genforscher ihre hochtrabenden Versprechungen tatsächlich halten können, kann man nur hoffen, dass uns die Ärzte vor der Transplantation eines aus Stammzellen im Reagenzglas gezüchteten Organs verraten, ob es aus einer männlichen oder weiblichen Stammzelle entstanden ist. Schließlich will man ja wissen, ob man seine Niere, Leber oder Milz einem Mädchen oder einem Jungen zu verdanken hat. Außerdem gebietet es die Achtung vor den embryonalen Organspendern, seinem neuen Körperteil einen ordentlichen Namen zu geben. So wird der pietätvolle Patient je nach Geschmack seine neue Niere Saskia, seine Ersatzleber Dennis und die frischen grauen Zellen im Alzheimerhirn nach der griechischen Titanin und Göttin der Erinnerung zärtlich liebevoll Mnemosynchen nennen.
Natürlich gibt es noch andere Gründe, warum meines Erachtens ein Patient das Recht hat, das Geschlecht der Stammzelle zu erfahren, aus dem sein neues Organ entstehen soll. Welcher Mann möchte schon gerne mit einer weiblichen Hirnhälfte herumlaufen oder umgekehrt? Und welche Frau wünscht sich nach einer Brustamputation einen männlichen Busen?
Tod, wo ist dein Stachel?
Die Regeneration ganzer Körperteile aus embryonalen Stammzellen soll uns nach Aussage der Industrie in ein finales Schlaraffenland versetzen. Man kann saufen, fressen und rauchen, bis die Leber, das Herz oder die Lunge streikt: im Falle eines Falles nimmt man einfach die erstbeste Stammzelle und macht ihr unmissverständlich klar, sich zu einer Leber, einem Herzen oder einer Lunge zu entwickeln. Es gibt sogar Hoffnung, so die Genindustrie, dass wir dem Totenreich den Sieg endgültig streitig machen und dank des embryonalen Regenerationsreservoir unsterblich werden.
Ich bin da weniger optimistisch. Die Schalmeienklänge der Industrie, dass wir bald mit Pipette und Kanüle dem Sensenmann ein Schnippchen schlagen können und uns dann wohl oder übel darauf einstellen müssen, so manches Arschloch 1000 Jahre ertragen zu müssen, halte ich für eine ferne Zukunftsmusik.
Ein bisschen schwanger
Doch in gewisser Weise haben die Stammzellenforscher den Tod schon überwunden. Ja, sie werden sogar, wie Gott aus der Rippe Adams, einen neuen Seinszustand erzeugen. Ein Sublebewesen. Hat man heute als Embryo nur zwei Möglichkeiten, entweder als Mensch oder als Sondermüll auf die Welt zu kommen, wird man in Zukunft auch noch eine dritte Möglichkeit haben, nämlich als Leber, Herz oder Niere ein Dasein als Biotech-Sukkubus zu fristen.
Dieser Dritte Weg eröffnet auch der Alltagssprache und der endlosen Abtreibungsdebatte völlig neue Dimensionen. Eine Frau kann, wenn sie statt eines Kindes ein Bein oder ein Ohr austrägt, ein bisschen schwanger sein. Und keiner Frau, die abtreibt, wird man noch vollendeten Mord vorwerfen können, wenn sie ihren Embryo der Stammzellenforschung spendet. Denn immerhin wird aus dem unerwünschten Kind noch etwas Sinnvolles. Jeder Embryo hat in Zukunft die Chance, wenigstens teilweise ein menschenwürdiges Dasein zu führen: eben als Teil eines Menschen.
Dann kommt der schwarze Mann
Dank der unermüdlichen Fleißarbeit unserer heutigen Stammzellenforscher wird man in Zukunft auch völlig neue erzieherische Maßnahmen anwenden können, um ungezogene Kinder zur Räson zu bringen. Und das ist bitter notwendig, denn die Drohung ›dann kommt der schwarze Mann‹ ist weder politisch korrekt, noch besonders wirkungsvoll. Schlägt der Nachwuchs aber in naher Zukunft wieder einmal kräftig über die Stränge, kann man mit drohendem Zeigefinger ausrufen: ›Wenn du jetzt nicht endlich still bist, kommst du im nächsten Leben in den dicken Bauch vom Opa als Austauschgalle!‹– Solingen den 19. August 2001