Das Ende des Security-Jihad oder Vom Einbruch der Semantik ins semiotische Wunderland
Die freie Meinungsäußerung ist plötzlich wieder wichtig geworden
Die Entwicklergemeinde von Open-Source-Software ist stets darum bemüht, ihre Produkte zu verbessern, Fehler, so genannte Bugs in den Programmen kompromisslos auszumerzen und Sicherheitslöcher, die von Hackern ausgenutzt werden könnten, sofort und ohne Zögern zu schließen. Die Programmierer von Webservern nehmen das Thema Sicherheit natürlich besonders ernst. Sie suchen mit einem geradezu religiösen Eifer nach versteckten Sicherheitslöchern. In der Zope-Community gaben die Entwickler ihrem stetigen Bemühen um größtmögliche Sicherheit daher den martialischen Namen Security-Jihad. Bis zum 11. September 2001. Danach änderten sie den Namen. Ihre Sicherheits-Initiative heißt nun unverfänglich: Security-Cleanup.
Zwar haben uns nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center und das Pentagon zahlreiche Islamkundige gebetsmühlenhaft erklärt, Jihad bedeute nicht Heiliger Krieg, sondern stetiges und ernsthaftes Bemühen um den rechten Glauben. Da dieses stetige und ernsthafte Bemühen jedoch immer häufiger darauf hinausläuft, so viele Ungläubige wie möglich zu töten, verfestigt sich in unseren Breiten der Eindruck, Jihad bedeute eben doch Heiliger Krieg, ist doch Krieg das stetige und ernsthafte Bemühen zu töten.
Jihad hin, Krieg her: seit dem 11. September wissen wir wieder, dass Worte Bedeutung besitzen und diese Bedeutung nicht einfach ein semiotisches Spiel für Umberto-Eco-Fans ist, sondern über das Leben vieler Tausend Menschen entscheidet. Nicht nur amerikanische Computerfreaks, die den Jihad bisher nur als Computerspiel und aus alten Golfkriegswitzen über die ›Mutter aller Schlachten‹ kannten, wurden vom Einbruch der Semantik in die unerträglich leicht gewordene Welt der simulierten Wirklichkeiten überrascht, auch Politikern und Intellektuellen fällt es schwer, in einer Welt, in der nichts mehr so ist wie zuvor, eine neue bedeutungsvolle Sprache zu erlernen. Da sprechen die einen von einer Kriegserklärung an die zivilisierte Welt, Medien schreien Wortkombinationen wie ›Krieg gegen Amerika‹ oder ›Amerika im Krieg‹ in die sprachlose Welt hinaus. Und sogleich erheben sich mahnende Stimmen, die davor warnen, von Krieg, Vergeltung oder gar Kreuzzug zu sprechen, da es sich lediglich um die Bekämpfung von Terroristen handele.
Schaut man beide Begriffswelten einmal genauer an, die Begrifflichkeiten des Krieges und das Vokabular der Terrorbekämpfung, so fällt auf, dass beide dem, was wir zurzeit erleben und wovor wir uns fürchten, nicht gerecht werden. Egal, ob ich von Krieg oder von Terroristenbekämpfung spreche, ich werde der Sache nicht gerecht. Weder führen die Islamisten Krieg gegen den Rest der Welt, in einer Form, wie wir Krieg bisher kannten, noch begehen sie Terroranschläge, wie sie z. B. in Israel, im Baskenland oder in Nordirland zur Tagesordnung gehören oder gehörten. Ein Krieg zielt darauf ab, Land zu erobern, Land zu befreien, eine gegnerische Armee zu besiegen oder zurückzuschlagen. Das galt selbst noch in den Bürgerkriegen des Balkans. Terroranschläge hatten bisher zum Ziel, einen bestimmten Personenkreis tödlich zu treffen. Die Zerstörung des World Trade Centers aber hat alle bisherigen terroristischen Dimensionen gesprengt. Terror mit Massenvernichtungsmitteln ist nicht mehr die kranke Vision erfolgshungriger Hollywood-Autoren. Anschläge mit biologischen, chemischen oder atomaren Waffen will niemand mehr ausschließen.
Terroristen sollten üblicherweise mit polizeilichen Methoden verfolgt werden, doch wie will man polizeilich durchgreifen, wenn die Terroristen sich in einem Land verstecken, in dem es keine Polizei gibt? Muss man den Kampf gegen die islamistischen Terroristen als Krieg bezeichnen, nur weil die USA in Afghanistan mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegen Terroristen militärisch vorgehen werden? Oder anders gefragt: Muss man einen Krieg nur deshalb als Polizeiaktion bezeichnen, weil es keinen Staat gibt, dem man den Krieg erklären könnte, und die Soldaten des Gegners als spießbürgerliche Schläfer seit Jahren unter uns leben?
Diese Fragen sind nicht eitel. Denn der Kampf gegen den Terror der Islamisten wird auch durch Worte entschieden werden. Nicht nur durch die Worte, die wir wählen, sondern auch durch die Worte, die die Islamisten benutzen. Sehr viele Zeitgenossen, für die die multikulturelle Gesellschaft lediglich eine semantikfreie Patchwork-Decke aus vielfältigen Zeichensystemen war, mit der man alle Unterschiede der Kulturen wunderbar zudecken konnte, bemerken nun mit Schrecken, dass es die Islamisten ernst meinen mit Sätzen wie diesen: »Und erschlagt sie, wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie, von wannen sie euch vertrieben; denn Verführung ist schlimmer als Totschlag.«
Unsere offene Gesellschaft basierte auf der stillschweigenden Übereinkunft, kulturelle Codes ihrer Semantik zu entledigen, um mit den bedeutungslos gewordenen Zeichen willkürlich spielen zu können. Nun zeigt sich, dass eine mächtige Gruppe in unserem globalen Dorf nicht bereit ist, ihre kulturelle Semantik zugunsten einer globalisierten Semiotik frei handelbarer, rekombinierbarer und austauschbar gewordener Zeichen aufzugeben. Dies war mit etwas Verstand vorherzusehen.
Die Frage, die wir uns nun stellen müssen, lautet: Wollen wir weiter in unserer semantiklosen Traum- und Märchenwelt verharren, oder wollen wir der globalen Gesellschaft eine aufrichtig verstandene Bedeutung geben, die es wert ist, notfalls auch mit Gewalt verteidigt zu werden?
Die erste Möglichkeit ist uns zumindest auf absehbare Zeit durch die Trümmer des World Trade Centers und die Gräben und Barrikaden, die in unserer Gesellschaft derzeit gezogen und aufgetürmt werden, verstellt. Wie tief die Gräben und hoch die Barrikaden schon sind, erfuhr kürzlich Ulrich Wickert, seines Zeichens Nachrichtenmoderator und in der Funktion des Tagesthemen-Chefs eine Ikone der öffentlichen Meinung, als er im Zentralorgan der Spaßgesellschaft, der Zeitschrift MAX, das tat, was Millionen Amerikaner ganz selbstverständlich trotz der Anschläge ebenfalls tun: er kritisierte den amerikanischen Präsidenten. Angela Merkel, die zurzeit wie ein gemütskrankes Huhn durch die Gegend läuft und zu abstrusen Vorschlägen Zuflucht nimmt, um die stramm proamerikanische rotgrüne Regierung rechts zu überholen, forderte gemeinsam mit Goppel, Huber und anderen aufrechten Christen sofort seinen Rücktritt, wohl in der alten obrigkeitsstaatlichen Vorstellung, Moderatoren im öffentlich-rechtlichen Fernsehen seien Regierungssprecher und füllten ein hoheitliches Amt aus, das man auch nach Sendeschluss nicht ablege. In ihrer Vorstellung von Rundfunk und Fernsehen kamen sich Bayern und die DDR schon immer sehr nah.
Kaum schlugen die schwarzen Wellen der Empörung über dem armen Fernsehmoderator zusammen, ruderte Ulrich Wickert in den Tagesthemen vor einem Millionenpublikum brav und eiligst zurück, widerrief, was er nicht gesagt hatte, dass nämlich Bush und Bin Laden in ihrer Intoleranz sich wie eineiige Zwillinge derselben verlotterten Mutter glichen, und er widerstand sogar der Versuchung, seinen Widerruf am Schluss der Sendung zu bringen, wo er nach seinem letzten devoten Kotau ironisch lächelnd hätte anfügen können: und nun das Wetter.
Durfte in der Spaßgesellschaft jeder zu Allem Stellung beziehen, da nichts wirklich wichtig war und jede noch so abwegige Äußerung bloß als willkommene Abwechslung im postmodernen Geschwätz der Beliebigkeit begrüßt wurde, werden nun nach dem Einsturz des World Trade Centers und dem Einbruch der Bedeutung ins postmoderne Niemandsland und der Realität in die mediale Scheinwelt eines globalen Big-Brother-Containers, die Grenzen der freien Meinungsäußerung wieder enger gezogen. Denn die freie Meinung ist plötzlich wieder wichtig geworden. – Solingen den 4. Oktober 2001