Der Gulag auf Kuba
Liebe Leser und Terroristenfreunde, vielleicht wundern Sie sich, dass ich Sie so anrede, und ich gebe auch zu, dass der zweite Teil der Anrede sich nur auf Leser mit einem europäischen Pass bezieht, aber wir müssen einmal offen miteinander reden.
Dass wir Terroristen unterstützen, steht außer Zweifel, immerhin hat die Europäische Union, der wir anzugehören die uneingeschränkte Freude haben, dem Palästinensischen Volk, vertreten durch die Palästinensische Autonomiebehörde, einen Flughafen, einen Radiosender sowie einige andere terroristische Infrastruktureinrichtungen finanziert. Dank des entschiedenen Eintretens des Terroristenjägers Sharons löste sich jedoch unser Terrorgeld in Rauch auf.
Nun kommen einige spitzfindige Leute und behaupten, dass nicht die Finanzierung von Flughäfen, Radiosendern und Statistikämtern ein Akt des Terrors sei, sondern die Zerstörung eben jener Einrichtungen. Dies ist zweifelsohne richtig, wenn besagte Einrichtungen auf amerikanischem oder europäischem Boden stehen. Befinden sie sich jedoch in Palästina, gehören sie zum Terrornetzwerk von Arafat. Wäre es anders, müsste man Sharon als Terroristen bezeichnen, was wie wir wissen antisemitisch und damit politisch nicht opportun wäre.
Vermutlich fühlen Sie sich in der Haut eines Salonterroristen nicht besonders wohl. Die Lage ist auch wirklich vertrackt. Denn schaut man einmal nach Kuba in die Guantanamo Bay, so fragt man sich, ob die USA noch der gleichen Zivilisation angehören wie wir oder nicht. Ein britischer Historiker, der als Soldat in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet, meinte sogar, die Nazis hätten ihn besser behandelt als die Amerikaner die al-Quaida-Kämpfer in den US-Gulags unter freiem Himmel.
Liebend gern wäre man ja mit allen, die unsere Zivilisation gegen Terroristen verteidigen, uneingeschränkt solidarisch, nur fragt man sich mittlerweile, ob Amerikaner und Israelis nicht vielleicht eine High-Tech-Ausgabe der Steinzeit-Talibans sind, die in Afghanistan gerade die Waffen strecken mussten. Die einen bauen Lager, in denen Menschen ein und die Menschenrechte ausgesperrt werden, und die anderen zerstören in den autonomen Gebieten Wohn- und Geschäftshäuser, die zwar nicht so viele Stockwerke wie die Türme des World Trade Centers haben, für die Bevölkerung in Pälastina aber nicht minder wichtig sind.
Die feinsinnigeren Leser unter Ihnen werden nun sicher einwenden, dass dies alles doch ein wenig grob gedacht sei, doch ich kann Ihnen versichern: die Zeit der Haarspalterei ist vorbei. So machte am 4. Schwat 5762, also letzten Donnerstag, die Jüdische Allgemeine mit einem Artikel von Michael Wolffsohn auf, der sich, wie er dort schreibt, ›als Fast-linker-Vor-68er‹ nach seinem ›freiwilligen Militärdienst in Israel vom Linkskurs der Achtundsechziger‹ entfernte und sich den Liberal-Konservativen annäherte, ›die weder mit der alten noch neuen Rechten etwas gemein haben.‹ Denn, so schreibt er weiter:
›Schon seit 1968 war erkennbar: Die Judenfeinde stehen, wie eh und je, rechtsaußen, aber die meisten linken ›Intellektuellen‹ sind alles andere als unsere Freunde. Der Kurs der 68er Neu- sowie DDR-Altlinken war nicht nur antiisraelisch, sondern grundsätzlich antizionistisch. Beide bestritten die moralische Existenzberechtigung eines jüdischen Staates und waren somit letztlich antisemitisch.‹
Überschrieben ist der Artikel mit ›Hinter deutschen Denkerstirnen‹, abgebildet sind drei deutsche Denker, die man wohl als Anführungszeichen-Intellektuelle bezeichnen soll: Günter Grass, Walter Jens und Martin Walser. Und da der Vorwurf des Antisemitismus Wolffsohn bei seiner Intellektuellenschelte noch nicht ausreicht, tritt er genüsslich Heine und Schiller zitierend noch einmal kräftig drauf: ›Haben diese Freunde uns Juden vielleicht nur als ›Entréebillet‹ (Heine) in die Weltkultur gebraucht? Jetzt brauchen sie uns nicht mehr. ›Der Mohr hat seine Arbeit getan, der Mohr kann gehen.‹ (Schiller)
Wer Israel auffordert, die Menschenrechte zu beachten, weckt bei Wolffsohn Erinnerungen an Kaiser Wilhelm und benimmt sich stramm, trampelhaft und völlig unsensibel ›altdeutsch‹. Mit diesem letzten Keulenschlag gegen linke ›Intellektuelle‹ beendet der Vor-68-fast-Linke Wolffsohn seine Philippika gegen Links.
Schütteln wir also weiterhin bei Staatsbesuchen Sharons Hand, auch wenn wir uns bei seinen Taten manchmal fragen, ob es nicht Zeit wird, das Dogma vom Existenzrecht Israels einmal grundsätzlich in Frage zu stellen, denn nach der aktuellen Bush-Doktrin haben terroristische Staaten kein Existenzrecht.
Doch das sind alles viel zu beunruhigende Fragen, die wir selbst als Intellektuelle in Anführungszeichen erst gar nicht denken wollen, geschweige sie unseren Freunden in den USA und Israel unter die Nase zu reiben.
Es gäbe viel Grund zur Empörung. Schlucken wirs besser runter. – Solingen den 21. Januar 2002