Den 11. September überleben
Es freut mich, lieber Leser, dass Sie den 11. September gestern auch einigermaßen gut überstanden haben. Das war gar nicht so einfach, denn schon seit Tagen stürzen auf allen Fernsehkanälen die Türme des World Trade Centers, in einer Endlosschleife aus allen nur erdenklichen Perspektiven gefilmt, in sich zusammen. Minutiös schildern Dokumentarfilme die letzten Minuten in den Flugzeugen, bevor sich diese in die Wolkenkratzer bohren, sich aufs Pentagon stürzen oder von eingreifenden Helden in letzter Minute zum Absturz gebracht werden, bevor die Terroristen sich damit auf das Weiße Haus oder ein Atomkraftwerk stürzen konnten. Da werden die Filmemacher nicht müde, das Geräusch zu beschreiben, das ein menschlicher Körper hervorruft, wenn er auf dem Dach der Lobby des World Trade Centers zerschellt. Da sitzen Angehörige der Opfer, die Väter, Mütter, Kinder, Brüder, Schwestern, Ehemänner und Ehefrauen der Toten vor den Kameras und schildern wie sehr sie diejenigen vermissen, die unter den Trümmern des World Trade Centers begraben wurden.
Die uneingeschränkte Solidarität unseres Kanzlers mit den Amerikanern hat diesen vor allem eine uneingeschränkte Macht über die Bilder und Botschaften gegeben, die in unsere Wohnzimmer flimmern. Doch das, was wir da sehen, verdrängt allmählich das Entsetzen und die Anteilnahme, denn die nationale Egozentrik der Amerikaner hat gestern einen Höhepunkt erreicht, der vielleicht sogar einzelne Amerikaner nachdenklich stimmen wird.
Da rollte beispielsweise am 11. September Mozarts Requiem, gesungen von Hunderten von Chören, als akustischer Staffellauf von der Ostküste den Zeitzonen folgend quer durch die Vereinigten Staaten bis zum Pazifik, um der Stunde zu gedenken, als das erste Flugzeug in den Nordturm flog. Oder war es der Südturm? Da verliest der Ex-Bürgermeister von New York, Rudolph Guiliani, die Namen aller Todesopfer der Terroranschläge des 11. Septembers. Und die Medien der Welt sind emsig bemüht, die Botschaft in den letzten Winkel unserer Coca-Cola trinkenden Welt zu tragen. Und diese Botschaft lautet: ein toter Amerikaner ist tausendmal mehr wert als ein toter Afghane, dessen Tod höchstens im Dutzend gemeldet wird, wenn sich eine amerikanische Bombe verflogen hat und in einer Hochzeitsgesellschaft explodiert ist. Und ein amerikanischer Toter ist gar eine Million mal mehr wert als ein verhungerter Afrikaner, der in seinem Leben nie das Licht der medialen Weltöffentlichkeit erblickt hat und dies auch im Sterben nicht erblicken wird. Die Botschaft lautet: ein toter Amerikaner ist ein Held, alle anderen Toten sind bestenfalls Kollateralschäden gerechter Kriege oder des freien Welthandels.
Bei ihren Toten sind die Amerikaner eigen. So haben sie selbst dem aus Indien stammenden Sikh einen Baum gepflanzt, der irgendwo dort, wo Amerika am unerträglichsten ist, eine Tankstelle betrieb, bis ihn ein weißer Amerikaner erschoss, um Vergeltung für die Terroranschläge am nächstbesten Turban tragenden Nichtweißen zu üben. Wenn das kein Zeichen für Weltoffenheit ist! Kommt her und lasst euch in Amerika als echte Amerikaner massakrieren, dann wird euch die Nation in ihr Abendgebet aufnehmen!
Thomas Schäuble rettet die Welt
Es freut mich, lieber Leser, aber auch, dass Sie gestern den vielen Terroranschlägen entronnen sind, die unsere Sicherheitsbehörden seit dem 11. September 2001 so eifrig zu verhindern suchen. Besonders rührig war dabei Thomas Schäuble, der Innenminister des Antiterror-Ländles Baden-Württemberg, der es sich mitten im Wahlkampf nicht nehmen ließ, die Welt zu retten, indem er das Terrorpärchen von Heidelberg festnehmen ließ. Diese finsteren Terroristen, er ein Alkohol und Drogen konsumierender, radikaler Islamist aus der Türkei, sie eine ehemalige Kassiererin in einem US-Supermarkt, planten den schlimmsten Terroranschlag seit dem 11. September 2001 auf eine US-Einrichtung. Das berichtete jedenfalls die gewöhnlich gut unterrichtete Washington Post. Und tatsächlich! Die Polizeibeamten des Ländles fanden heraus, dass das Terrorpärchen große Mengen Sprengstoff besaß: ganze 380 Gramm Schwarzpulver, mit dem es Massenvernichtungswaffen herstellen wollte, um einen US-Supermarkt in die Luft zu sprengen.
Günter Beckstein, Mitglied des Inkontinenzteams von Edmund Stoiber, forderte sogleich schärfere Gesetze. Es könne nicht länger hingenommen werden, dass die Frauen radikaler Islamisten in sicherheitsrelevanten Bereichen wie z. B. einem Supermarkt arbeiteten. Damit hat Beckstein den Kern der Bedrohungslage getroffen: es sind die berufstätigen Flintenweiber islamistischer Terroristen, die Schlimmes im Schilde führen, während die moslemischen Paschas zu Hause sitzen und bei einer Wasserpfeife von einstürzenden Neubauten träumen.
Gouverneur Blair und sein Präsident
Doch freuen wir uns nicht zu früh, lieber Leser, auch wenn Bin Laden von Saddam Hussein von Platz 1 der Liste der GröBaZe (Größte Bösewichte aller Zeiten) verdrängt wurde. Denn George W. Bush scharrt schon ungeduldig mit den Hufen, weil in Bagdad der böse Onkel, der schon George Bush senior eine lange Nase gemacht hat, immer noch an der Macht sitzt und die Fäden des Terrors in der Hand hält, die seit dem 11. September eigentlich Osama Bin Laden in der Hand halten soll. Aber die USA zaubern bei Bedarf jederzeit eine andere Most Wanted Person aus dem Zylinder. Und der Ölbankrotteur aus Texas möchte nun eben unbedingt die Scharte seines Vaters auswetzen.
Dummerweise findet Bush keinen Verbündeten, mit dem er das Land überfallen und von seinem Diktator befreien könnte, um es dann an die amerikanische Ölindustrie zu verpachten. George Bush muss sich sehr einsam fühlen im Kampf gegen das Böse in Bagdad. Da freute er sich bestimmt, als der Gouverneur des US-Bundesstaates Britannien ihn in Maryland besuchte, um ihm das Blut seiner Landeskinder im Tausch gegen irakisches Öl anzubieten. Viele glauben, dass Blair nur im Auftrag der British Petroleum handelt, doch vor allem liegt ihm der Ruhm seines Bundesstaates am Herzen. Denn seit Jahren bemühen sich die Briten darum, dass ihr Bundesstaat endlich auch durch einen Stern in der amerikanischen Flagge repräsentiert wird. Dies wurde ihnen bisher verweigert, weil die anderen Amerikaner sie allesamt für Tee trinkende schwule Hillbillies halten. Da Gouverneur Blair nun aber dem Präsidenten in Maryland, im Lande der unbefleckten Maria seine Waffenbrüderschaft angeboten hat, und das schneller als andere US-Gouverneure, sogar schneller als Jeb Bush aus Florida, der George doch erst durch seine Wahlfälschung an die Macht gebracht hat, stehen die Chancen gut, dass demnächst ein neuer Stern in der US-Flagge aufleuchtet.
Doch ich komme vom Thema ab.
Der GröPaZ und die Bilanz der Toten
Das Überleben ist noch lange nicht gesichert. George Bush, der durch seine Weigerung, das Klima zu schützen, bereits als GröGaZ (Größter Geiselnehmer aller Zeiten) in die Geschichtsbücher eingegangen ist — immerhin haben die USA als größter Umweltverschmutzer die ganze Welt als Geisel genommen. Dieser GröGaZ möchte nun auch als GröFaZ für Furore sorgen. Man fragt sich nur, wie Charlie Chaplin einen Mann darstellen würde, der immer so geht, als bräuchte er mehr Platz zwischen den Beinen. Da aber schon viele GröFaZe von der Nachwelt, als GröVaZe (Größte Verbrecher aller Zeiten) tituliert wurden, hat George Bush in weiser Voraussicht dem Internationalen Gerichtshof, vor dem sich zurzeit der serbische GröFaZ und GröVaZ verantworten muss, die Anerkennung verweigert, damit dieser niemals einen amerikanischen GröFaZ und GröHaZ (Größten Helden aller Zeiten) anklagen darf. Und sollte man ihn doch einmal schnappen, kann ihn Al Gore aus Holland wieder herausholen, haben doch Senat und Repräsentatenhaus beschlossen, das Polderland des Bösen in einem solchen Fall zu überfallen.
Gestern am 11.9. war George Bush schon einmal der GröPaZ (Größter Patriot aller Zeiten) und damit komme ich zum Schluss meiner Überlegungen. Die amerikanischen Medien wollen uns weismachen, dass ein toter Amerikaner mehr wert ist als ein toter Afghane. Vielleicht haben sie Recht, nicht aus rein menschlich-moralischer Sicht (Gott bewahre!), aber vielleicht in ökonomischer und ökologischer Hinsicht. Während dreitausend verhungerte Afrikaner einfach bloß tot sind und noch nicht einmal den Würmern viel zu geben haben, lösen dreitausend tote Amerikaner einen Boom in der Rüstungsindustrie aus, schaffen Arbeitsplätze, geben zahllosen anderen Amerikanern Arbeit und Brot und damit Hoffnung auf ein besseres Leben. Von den Lebensversicherungen will ich hier gar nicht reden. Und angesichts der ungeheuren Mengen an Energie und anderen Rohstoffen, die ein durchschnittlicher Amerikaner im Laufe seines Lebens verbraucht, ist ein toter Amerikaner ein wesentlich wertvollerer Beitrag zum Umweltschutz als ein toter Afghane, der hier bloß ein paar dürre Äste verbrennt und dort ein wenig Altmetall für eine Hacke oder einen Pflug benötigt.
Bevor Sie, lieber Leser, nun erbost ausrufen, dass das Zynismus sei, wobei ich Ihnen ausdrücklich zustimmen würde, möchte ich noch einmal auf die Trauerfeierlichkeiten zurückkommen. Dort wurde gebetsmühlenartig wiederholt, die Opfer des 11. September seien für die Freiheit gestorben. Ist Freiheit nicht ein besonders zynisches Wort für das schwarze fossile Gemisch, das in Saudi Arabien so verlockend stark aus dem Boden sprudelt? Nun können wir aber die Fernseher wieder einschalten. – Solingen 12. September 2002