Von seiner Verfassung hängt Europas Zukunft ab
Ramses II. bekommt den Karlspreis.
Ich war mit dem Fahrrad unterwegs, als ich das Plakat sah: es zeigte ein Portrait der Mumie Ramses II. mit der Überschrift: »Von seiner Verfassung hängt die Zukunft Europas ab.« Ich bremste, machte kehrt und fragte mich betroffen: Welche politische Organisation hat die Chuzpe den Präsidenten des europäischen Konvents derart zu beleidigen? Als ich dann näher kam und lesen konnte, wer dieses Pamphlet zu verantworten hat, war ich, auch im gedanklichen Selbstgespräch mit mir selbst, sprachlos.
Wenn aber ein Satiriker sprachlos ist, dann hat mit Sicherheit das Ministerium für Realsatire zugeschlagen: in diesem Fall die Karlspreisstiftung mit freundlicher Unterstützung von AMB Generali, DDB Düsseldorf, e-on und des Fachverbands Außenwerbung. Der Fachverband Außenwerbung ist ja bekannt für seine kreativen Plakate in der Saure-Gurken-Zeit. Aber auch die Karlspreisstiftung ist wegen ihrer satirischen Kommentare zur Lage Europas berüchtigt, hat sie doch im letzten Jahr keine lebende Person, sondern ganz im Sinne der Globalisierung die Münzen und Scheine^[Vgl. [Karlspreis für den Euro]] in unseren Taschen geehrt.
Und in diesem Jahr verleiht die Stiftung den Karlspreis an Valéry Giscard d’Estaing. Ihre Plakataktion muss man wohl als satirischen Kommentar zu ihrer eigenen Entscheidung verstehen; als Warnung und Mahnung. Denn müssen wir nicht um die Zukunft Europas fürchten, wenn sie von der Verfassung eines Mannes abhängig ist? Man kann bloß hoffen, dass die körperliche und geistige Verfassung des Mannes vor der Berufung zum Konventspräsidenten überprüft wurde. Immerhin kann man den Geehrten von Weitem mit Ramses II. verwechseln, der in den letzten drei Jahrtausenden bekanntlich wenig agil war, sodass die Frage erlaubt sein muss, ob wir die Zukunft Europas in die Hände eines ägyptischen Pharaos legen sollen?
Immerhin war das demokratische Verständnis der Beherrscher von Ober- und Unterägypten milde gesprochen bloß rudimentär ausgeprägt. Allerdings hatten sie Sinn für verkrustete Hierarchien und überbordenden Prunk. Vermutlich hat die Karlspreisstiftung auch deshalb den ehemaligen französischen Staatspräsidenten als Preisträger ausgewählt. Denn sein Verfassungsentwurf liest sich, als habe ihn eben jener Ramses II. bzw. seine Priester- und Bürokratenkaste geschrieben. Das Volk kommt in dem mehrere hundert Seiten starken Dokument lediglich in einem der Präambel vorangestellten Zitat des griechischen Historikers Thukydides vor: »Mit Namen heißt unsere Verfassung, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf eine größere Zahl gestellt ist, Volksherrschaft.« Ansonsten ist viel von Freihandel und den Beziehungen der Nationalstaaten zur Union die Rede, was ja auch nicht verwundern dürfte, da es nicht die Völker Europas sind, die sich hier eine Verfassung geben, sondern die Staats- und Regierungschefs sowie vermutlich ein gutes Dutzend Vorstandsvorsitzende und eine Hundertschaft Beamte.
Und so erweist sich die Realsatire der Karlspreisstiftung als Mahnung an alle deutschen Radler, Autofahrer und Fußgänger. Valéry Giscard d’Estaing: von seiner Verfassung hängt die Zukunft Europas ab. Dass es so schlimm um Europa steht, konnte niemand ahnen, jetzt wissen wir es. Der Karlspreisstiftung gebührt dafür unser aller Dank. – Solingen den 29. Mai 2003