Jammern gehört zum Handwerk
Deutschland ist erstmals seit der Wiedervereinigung wieder Export-Weltmeister. Der Weg von Platz 2 hinter den USA zurück auf Platz 1 war lang und steinig. Doch dank der vorausschauenden Wirtschaftspolitik unserer Bundesregierung haben wir es geschafft: Deutschland jammert endlich wieder auf höchstem Niveau.
Export-Weltmeister, das hört sich doch schon sehr viel besser an als Frauenfußballweltmeister. Und wir haben es amtlich! Nach Angaben der OECD und des Internationalen Währungsfonds lagen unsere Ausfuhren im August mehr als sieben Prozent über denen der USA! Wer hätte das gedacht! Wie das Wunder von Bern mutet einem diese Nachricht an, nach all den Tiefschlägen durch PISA und den vielen roten Laternen, die nach den Worten der Opposition seit dem Schröderschen Amtsantritt an uns herumhängen. Hatten wir Deutschen nicht gerade erst die Einheit unseres Vaterlands durch gemeinschaftliches Jammern vollendet, auch wenn der alte Lotse Helmut Schmidt das Jammern der Ostdeutschen, in das wir Westdeutschen aus Solidarität so überaus harmonisch einfallen, zum Kotzen findet? So viel Ende war nie! Und dann schießt uns die deutsche Exportwirtschaft trotz des überbewerteten Euro zum Sieg. Toor! Toor! Toor! Deutschland ist Weltmeister! Wem sollen wir bloß für diesen Erfolg danken? Den Managern und Konzernbossen, die ihre Deutschland AG sicher durch die Stürme der Weltmärkte steuerten? Den greisen Ingenieuren, die ein letztes Mal überragende Technologien erdachten. Der Bundesregierung, die alle größeren Unternehmen von der Steuer befreite? Oder den vielen Millionen Arbeitslosen, die den Unternehmen seit Jahren Lohnrunden unterhalb des Inflationsausgleichs bescherten? Am Erfolg wollen bekanntlich alle teilhaben. So sei es also. Der Glaube will sich zwar nicht so recht einstellen, aber offensichtlich sind nicht alle deutschen Manager Nieten in Nadelstreifen. Und neben elektronischen Mautsystemen, jahrzehntelang im Kreis fahrenden Magnetschwebebahnen und zerplatzenden Luftgebilden wie dem Cargolifter muss es wohl noch eine Reihe von deutschen Technologien geben, die wirklich und wahrhaftig funktionieren. Doch Hand aufs Herz! Fähige Manager und solide arbeitende Ingenieure gibt es überall auf der Welt. Einzigartig in der Welt ist jedoch unsere Bundesregierung, die, ob rot-grün oder schwarz-gelb, milliardenschwere Subventionen in die Wirtschaft pumpt, die jeder Manager gerne mitnimmt, und allen Unternehmen, die sich findige Steuerberater leisten können, die Steuer auf Jahre hinaus erlässt oder gar zurückerstattet. Davon können selbst US-Firmen nur träumen, obwohl ihr Mann im Weißen Haus mit Steuergeschenken nur so um sich wirft. Doch ohne das Heer von Arbeitslosen hätten wir trotz Steuerfreiheit und Subventionssegen das Endspiel um die Export-Weltmeisterschaft nie erreicht. Ohne 4,4 Millionen Arbeitslose wäre Schluss mit unbezahlten Überstunden und Niedriglöhnen. Dann bliebe den meisten deutschen Managern nichts anderes übrig als Chinesisch zu lernen und die Produktion ins Land der unbegrenzten Wachstumsraten zu verlegen. Ohne hohe Arbeitslosigkeit müssten die Unternehmen Millionen ausgeben, um ihre Mitarbeiter alle halbe Jahr in sündhaft teure Motivationsseminare zu schicken. Welcher Arbeiter würde denn ohne das Damokles-Schwert der Arbeitslosigkeit für den Shareholder Value auch nur den kleinen Finger krumm machen? Schließlich hat er noch nicht einmal für den Wohlstand in seinem eigenen Arbeiter- und Bauernstaat richtig rangeklotzt!
Wer den deutschen Michel kennt, der weiß, dass er sich niemals auf seinen Lorbeeren ausruhen wird, denn hinter dem ersten gibt es nur letzte Plätze! Das ist unser Erfolgsgeheimnis. Deshalb müssen wir heute schon den Grundstein für künftige Siege legen. Da die Genialität deutscher Manager und deutscher Ingenieure aufgrund unseres erbärmlichen Bildungswesens leider begrenzt ist und die Schulden für weitere Steuergeschenke in der kreativen Buchhaltung von Bund, Land und Gemeinden nicht mehr versteckt werden können, müssen die Arbeitslosen ran. Jetzt sollen die Verteidiger des unternehmerischen Wohlstands in die Sturmspitze vorrücken!
Der ehemalige Motivationstrainer Peter Hartz dachte sich in Hartz III, IV oder V (wer kann die Hartze noch zählen?) für alle, die noch Arbeit haben, einen trefflichen Stimulus aus. Aus Arbeitslosen werden Sozialhilfeempfänger, denen man damit droht, die Altersvorsorge wegzupfänden, wenn sie auf dem Spielfeld der Großkonzerne nicht jede zumutbare Aufgabe erfüllen. Wer künftig in der Firma nicht mehr spurt, kann gleich nach drüben ins Obdachlosenheim gehen, denn mit ALG II, dem Hartzschen Arbeitslosengeld II, kann sich ein Arbeitsloser bloß noch den Alk geben. Das wird die Produktivität deutscher Betriebe noch einmal deutlich steigern! Denn die Arbeitslosenquote bleibt, da können sich die Personalchefs ganz entspannt zurücklehnen, mit Sicherheit bei rund 10 Prozent.
Die CDU hat bereits Lunte gerochen und möchte, dass die verarmten Städte ALG II auszahlen. Das macht Sinn, denn aufgrund leerer Kassen haben die Städte den Arbeitslosen eine Unmenge zumutbarer Jobs anzubieten. Das Jammern der Städte ist auch bereits leiser geworden. Sobald Hartz III, IV oder V durch ist, können die vielen geschlossenen Bibliotheken und Schwimmbäder wieder eröffnet werden. Allerorten werden zumutbare Arbeitskolonnen gegründet, die in Windeseile die baufälligen Schulen renovieren, die verrotteten Spielplätze neu ausrüsten und die im Obdachlosenheim lebenden Kleinkinder in frisch gestrichenen Kindertagesstätten betreuen werden. Arbeit ist genug da, arbeitslose Hände ebenfalls. Dank Hartz werden wir den Chinesen zeigen, wo der Hammer hängt!
Vielleicht fragt sich nun so mancher Leser, ob wir als Exportweltmeister und künftiges Wirtschaftswunderland nicht irgendwann das Jammern verlernen werden. Doch da kann ich jeden beruhigen. Jammern gehört zum Handwerk. Kein deutsches Unternehmen wird jemals aufhören zu jammern. Schließlich könnte man schlafende Hunde wecken. Nicht auszudenken, wenn unsere Politiker anfingen, nicht mehr die Arbeitslosen, sondern die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen! – Solingen den 18. Oktober 2003