Der Rücktritt als Fortschritt
Von heute auf morgen könnten wir die Arbeitslosigkeit besiegen, wenn die Beschäftigungslosen wie Welteke und andere Vorteilsnehmer von ihrem Amt zurücktreten könnten, statt sich in die Warteschlange im Arbeitsamt einreihen zu müssen.
Die Liste der Rücktritte, an deren vorläufigem Ende der Name Ernst Welteke steht, ist zu lang, um hier vollständig zitiert zu werden. Wer aber die Skandale der letzten Jahre vor dem geistigen Auge Revue passieren lässt, sollte sich von der Erkenntnis, dass Deutschland einer Bananenrepublik nur das Hotel Adlon voraus hat, nicht entmutigen lassen. In Wirklichkeit weisen uns diese Rücktritte den Weg aus der Krise, zeigen sie doch wie flexibel wenigstens der besser verdienende Teil unserer Gesellschaft sein kann: ob sie arbeiten oder nicht, ist ganz egal, die Bezüge der zurückgetretenen Vorteilsnehmer bleiben fürstlich.
Die Bundesregierung sollte deshalb alle Arbeitnehmer in den Stand politischer Beamter erheben, so dass sie im Falle eines Falles von ihren Ämtern zurücktreten können. Wenn dann ein von Pierer oder irgendein anderer Vorstandsvorsitzender, der gerade seine Bezüge verdoppelt oder verdreifacht hat, von den Arbeitnehmern eine Halbierung ihrer Löhne verlangt, treten diese einfach zurück, kassieren einige Jahre ohne den täglichen Stress im Hamsterrad des Shareholder Values ihre Bezüge und ziehen sich dann mit einer Pension von 15.000 Euro wie Welteke aufs Altenteil zurück.
Mit einem Schlag gäbe es keine Arbeitslosen mehr in unserem Land, bloß noch Vorteilsnehmer, die nach einem kurzen Scharmützel mit der Betriebszeitung von ihrem Amt zurücktreten. Kein Mensch bräuchte mehr um seine Rente zu fürchten, und die Binnennachfrage würde bei einem Rentenniveau von 15.000 Euro sprunghaft ansteigen.
Auch diejenigen, die bereits arbeitslos sind, könnten dann mehr Flexibilität zeigen und von ihrem für unsere Wirtschaft so wichtigen Amt als Arbeitslose zurücktreten. Sie würden dann, wie es bei den Vorteilsnehmern immer so schön heißt, mit ihrem Rücktritt ihre Familie schützen oder Schaden von ihrem Amt fernhalten.
Und falls sich partout kein Rücktrittsgrund finden lassen will, so bräuchten sich die Arbeitslosen bloß von einer beliebigen Großbank zu ein paar Übernachtungen im Adlon, einem beschwingten Walzer beim Wiener Opernball oder zu einem Urlaub auf Mallorca einladen zu lassen.
Selbst die Jugendarbeitslosigkeit verlöre ihren Schrecken, wenn man den Schülern ermöglichen würde, von ihrer Schullaufbahn rechtzeitig zurückzutreten. Statt eine Lehrstellenabgabe zu erheben, sollte die Regierung schlecht ausgebildete Schulabgänger in den Beamtenstand erheben, wodurch sie vor den Nachstellungen der PISA-Tester geschützt wären. Und statt sinnloser Bewerbungen könnten sie nun in ihrer kreativer Rechtschreibung Rücktrittsgesuche schreiben, um den Ruf des dualen Bildungswesens vor bleibenden Schäden zu bewahren.
Blieben einzig die Probleme der Pflegeversicherung, die mit diesen Mitteln allein nicht zu lösen wären. Doch selbst hier weisen uns Rücktritte einen gangbaren Weg aus der Finanznot. Nur müssten sich die Pflegebedürftigen in dieser Frage eher ein Beispiel an den japanischen Beamten der Kaiserzeit als an Welteke und Konsorten nehmen, denn die alten Japaner sind bekanntlich nicht nur von ihrem Amt, sondern sinnvollerweise gleich vom Leben zurückgetreten.
Vielleicht sollten wir als ersten wirklichen Reformschritt die Fallhöhe politischer Rücktritte in Deutschland deutlich erhöhen und zwar mindestens auf das Niveau, das ein durchschnittlicher Arbeitsloser seit jeher im leicht gebremsten freien Fall bewältigt. Es muss ja nicht gleich der Rücktritt mit Hilfe eines guten Solinger Messers sein, es wäre schon ein Fortschritt, wenn Leute wie Welteke zukünftig im Arbeitsamt eine Marke ziehen müssten. – Solingen den 20. April 2004