Abschreibungsparadies Deutschland
Als Vodafone jetzt verkündete, man werde imaginäre Buchverluste in Milliardenhöhe, die durch den gesunkenen Kurs der Mannesmann-Aktien entstanden seien, von der Steuer absetzen und damit selbst Phantasieverluste sozialisieren, dürfte so mancher T-Aktionär seine letzte Steuererklärung hervorgekramt haben, um nachzurechnen, wie viel Steuern er gespart hätte, wenn sein Steuerberater ein Meister seines Fachs gewesen wäre.
Kaum jemand weiß, dass Deutschland eine der letzten lukrativen Steueroasen auf dieser Welt ist. Nirgends sonst kann sich ein Unternehmen Verluste, die gar nicht angefallen sind, von den übrigen Steuerzahlern zurückholen und damit Subventionen kassieren, die von der EU seit Jahren untersagt sind. Ohne Deutschland wäre die Globalisierung für multinationale Konzerne nur halb so schön, denn der Reibach ist erst dann perfekt, wenn ein Konzern, der im billigen Osten produziert und seine Gewinne in der Karibik versteuert, seine Verluste, oder das, was er dafür ausgibt, in Deutschland abschreiben kann. Als Steuerabschreibungsparadies steht Deutschland damit unangefochten auf Platz 1.
Wer allerdings ganz oben ist und dort bleiben will, muss auch bereit sein, Opfer zu bringen, und so wird pünktlich zu den jährlichen Steuerterminen das Vermögen derjenigen geopfert, die immer schon von den reichen Hunden gebissen wurden: die letzten arbeitenden Bürger. Einer muss ja die Autobahnen finanzieren, über die die Klaus Esser dieser Republik (Ich liebe sprechende Namen, auch wenn sie höflich untertreiben!) ihre Abfindungen in die Schweiz schaffen können.
Dass in einem Abschreibungsparadies die öffentlichen Kassen nicht gerade im Geld schwimmen, versteht sich von selbst. Da bleibt bis auf die Autobahnen so manches auf der Strecke: z. B. die Bildung. Dies ist jedoch weder schlimm, noch unerwünscht. Ein zu hoher Bildungsgrad der Steuer zahlenden Bevölkerung ist in einem Abschreibungsparadies nicht ganz ungefährlich. Selbst den Deutschen könnte nach intensivem Nachdenken irgendwann einmal ein Licht aufgehen! Und dann bestünde die Gefahr, dass der Steuerzahler seine auf deutschen Schulen erworbenen Fremdsprachenkenntnisse nutzt, um in die Karibik auszuwandern und dort die Sozialhilfe zu verprassen. Doch dank der sorgfältig geplanten Bildungslücken im deutschen Schulsystem besteht diese Gefahr in Deutschland nicht. Im PISA-Test bekam das deutsche Schulsystem zuletzt sogar die Note »besonders empfehlenswert«. Und wer die Energie und das Verantwortungsgefühl der deutschen Bildungspolitiker kennt, weiß, dass auch in Zukunft die Dummheit der Bevölkerung nicht aufs Spiel gesetzt wird. Gefahr für das Abschreibungsparadies Deutschland droht denn auch aus einer ganz anderen Richtung. Erinnern wir uns, dass der sauerländische Steuerterrorist Friedrich Merz im letzten Jahr die Steuererklärung auf dem Bierdeckel gefordert hat. Ein Wahnsinn! Man stelle sich bloß vor, was passierte, wenn ganze Stammtische die Zeche, die sie für Klaus Esser und Konsorten zahlen müssen, auf den Pfennig genau ausrechnen könnten. Ein plötzlicher Luftdruckabfall im Wasserglas wäre die Folge! Gottseidank konnte Edmund Stoiber diesen Fehler in letzter Minute verhindern!
Da handelt die rotgrüne Bundesregierung klüger. Sie schafft die Körperschaftssteuer kurzerhand ab und behauptet dann, dies wäre ein kleiner Tippfehler im Gesetzestext gewesen. Oder sie kündigt neue Gesetze an, wenn wieder einmal ein Großkonzern seinen Aktionären die Abschreibung einer Rekordsumme mitteilt, wohlwissend, dass es dank der Unionsmehrheit im Bundesrat bei der Ankündigung bleiben kann. Und da der Kanzler mit seiner Agenda 2010 langfristig neue und sichere Einnahmequellen bei den Dümmsten der Dummen erschließen wird, braucht sich Hans Eichel auch nicht zu sorgen, ihm könnte das Geld für die Pensionen und Diäten der Politiker ausgehen. Das beruhigt sicher auch die Damen und Herren von der Opposition. Überhaupt schreiten SPD und CDU/CSU, wenn es um Abschreibungsmöglichkeiten geht, Seit’ an Seit’. Deutschland wird auch nach einem Machtwechsel für Vodafone und andere das lang gesuchte Abschreibungsparadies und damit ein wichtiger Faktor in der globalen Arbeitsteilung bleiben.
Kommen wir zum Schluss noch einmal auf die vielen T-Aktionäre zu sprechen, die von den Kursverlusten ihrer Unternehmensbeteiligungen gut leben könnten, wenn sie sie wie Vodafone von der Steuer absetzen könnten. Auch für sie fallen ein paar Krümel des Fortschritts vom Tisch der Globalisierung. Wussten Sie, lieber T-Aktionär, dass es demnächst neue Krankenversicherungskarten geben wird, die in ganz Europa gültig sind? Freuen Sie sich aber nicht zu früh. Der Gesetzgeber hat den Dümmsten der Dummen selbstverständlich einen Riegel vor eine allzu liberale und damit unsoziale Globalisierung geschoben. Preisgünstigen Zahnersatz in Polen oder Tschechien bekommen Sie damit nicht. – Solingen den 8. Juni 2004