Der Kaugummi in der Umkleidekabine
Eins-eins gestern gegen Holland, das war kein schlechter EM-Auftakt. Aber wie wäre das Spiel ausgegangen, wenn Rudi Völler genauso viel Macht hätte wie Gerhard Schröder? Wenn Müller-Wohlfarth wie Angela Merkel eine Bundesratsmehrheit hinter sich hätte und Sepp Meier wie Edmund Stoiber dauernd dazwischenfunken könnte? Die Holländer wären heute im siebten Himmel.
Die EM hat gerade erst begonnen und unsere Jungs konnten gegen die Niederländer bloß ein Unentschieden über die Zeit retten, deshalb ist es noch zu früh um auszurufen: Von der Nationalmannschaft lernen, heißt siegen lernen! Dennoch muss man sagen, dass sie immer wieder die Kurve kriegen. Was mussten Trainer und Nationalmannschaft vor der EM nicht alles über sich ergehen lassen. Jeder wusste es besser, Experten wohin man blickte. Aus dem Fußballverband kamen gute Ratschläge, die Manager aus der Liga meldeten sich breitbeinig zu Wort und die Sportreporter formulierten ausgefeilte Doppelpässe unter der Gürtellinie. Doch wenn es drauf ankommt, hat Rudi Völler die letzte Entscheidung. Er sagt, wo’s lang geht. Er bestimmt, wer spielen darf. Er wird gefeiert, wenn sie siegen. Und er hält den Kopf hin, wenn’s schief geht.
In der deutschen Politik geht es natürlich demokratischer zu. Da herrscht Gewaltenteilung. Da muss der Kanzler den Kopf für die Blockadepolitik der CDU/CSU hinhalten. Das ist so, als ob Sepp Maier die Mannschaft aufstellt, Müller-Wohlfarth die Taktik vorgibt und Rudi Völler nach der 0:10-Blamage vor die Kameras treten muss, während der Meier Sepp und der Müller-Wohlfarth nebenan lautstark die Ablösung von Rudi Nationale fordern. Wie sagte Glos so schön: »Die Zecke kommt immer besser weg als das Wirtstier.«
Wer blockieren will, findet in Deutschland Hebel genug, um alles lahm zu legen und den Kanzler wie seinen eigenen Halbbruder aussehen zu lassen. Das war schon immer so. Nur bei Kohl war es anders, er hat das einzig Richtige getan: selbst blockiert und es dann den anderen in die Schuhe geschoben. Doch auch ihn ereilte das Schicksal, denn zum Schluss war Lafontaine dann doch der bessere Bremser.
Unser politisches System ist ein filigranes Kunstwerk mit dem Titel: ›Wer hat Angst vorm starken Mann?‹ Von deutschem Boden sollte niemals wieder Politik ausgehen, sagten sich die Väter der Grundgesetzes und schufen die Kulturhoheit der Länder, den Bundesrat und den Vermittlungsausschuss. Überall auf der Welt werden Gesetze in einem Parlament verabschiedet. Bei uns ist das anders. Hier durchlaufen sie die Fraktion, den zuständigen Ausschuss, das Parlament, den Bundesrat und schließlich den Vermittlungsausschuss. Und in jeder Instanz feilen Dutzend Hände an der Unwirksamkeit des Gesetzes, bis es schließlich gar keine Wirkung, sondern nur noch die von interessierter Seite erhofften Nebenwirkungen hat. Das Plazet des Vermittlungsausschusses erhält nur ein echtes Placebo.
Ein Gesamtkunstwerk wie Deutschland ist natürlich nie vollendet und so haben unsere Politiker jetzt dem Vermittlungsausschuss zwei weitere Gremien nach-, vor oder parallelgeschaltet: die Kanzlerrunde und, wie im Falle des Zuwanderungsgesetzes, das Treffen auf dem Frankfurter Flughafen, wo die neue Troika des perfektionierten Stillstands, Schily, Beckstein und Müller, das Zuwanderungsverhinderungsgesetz endgültig unschädlich machten. Das ist so, als wenn Oliver Kahn, Sabine Christiansen und Dieter Bohlen über die Viererkette entschieden.
In Deutschland kochen alle mit am Gesetzesbrei: die Bundesregierung, die Bundesopposition, die Länderregierungen, die Gremien aller irgendwo vertretenen Parteien, die Verbände, die Gewerkschaften, die EU-Kommission, die Unternehmensberater, die Ausschüsse, die Kommissionen nur der Bürger darf wie der Fußballfan bloß zuschauen. Wenn Gesetze einen Geschmack hätten, so würden sie in Deutschland wie ein Kaugummi schmecken, der von elf Fußballspielern mehrmals durchgekaut und zwischendurch unter der Bank in der Umkleidekabine über Jahre deponiert wurde. So ein Genuss lässt eigentlich nur noch Spätfolgen zu. Aber über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. – *Solingen den 100sten Bloomsday.