Die Berliner Mauer ist weitergezogen
Ist der Spuk vorbei? Dürfen wir auf der A3 wieder unseren täglichen Stau genießen? Fahren die Züge wieder und die S-Bahnen? Können die Fische im Rhein wieder frei umherschwimmen? Ist Bush und mit ihm die No-Go-Area wieder verschwunden? Traut man den Staumeldungen, hat das Leben uns wieder und der dunkle Schatten ist fort.
Man fragt sich nun, wozu diese gespenstische Vorstellung eigentlich inszeniert worden ist. Wollte Bush den Schmutz seines völkerrechtswidrigen Krieges unter den Teppich der nordatlantischen Freundschaft kehren? Und wollten die alten Europäer Bush reinwaschen, ohne ihn und sich nass zu machen?
Gespräche unter Freunden in herzlicher Atmosphäre seien geführt worden, so hört man. Wenn es Streit gegeben habe, so sei er erstens ein Streit unter Freunden gewesen und zweitens nun Vergangenheit. Ich frage mich, wie man in der abgesperrten Hochsicherheitszone, die der US-Präsident um sich aufbaut, Worte wie Freundschaft und Herzlichkeit überhaupt benutzen kann? Der US-Präsident ist doch ein fahrender Todesstreifen, eine wandelnde Berliner Mauer, durch die niemand hindurchkommt, der nicht von der Staats- und Parteiführung Verzeihung! vom Weißen Haus eingeladen wurde.
In dieser mobilen SBZ reiste also der Herr des Universums in dieser Woche quer durch Europa, ließ allerorten das Leben erstarren und leerte die Straßen, die Himmel und Flüsse von allem, was einem Paranoiker gefährlich werden kann. Da mussten selbst die Aale im Rhein verschwinden.
Gerhard Schröder hat den Präsidenten pflichtschuldig und diplomatisch mit spitzen Fingern umarmt. Seinen Todfeind begrüßt man herzlicher, wenn er zu Besuch kommt. Aber bei Todfreunden gefriert das Lächeln zur Maske. Was auch kein Wunder ist, denn dieser Besuch war, trotz der tückischen Charmeoffensive der Schlange Condi, und gerade wegen des minutiösen Drehbuchs der Herzlichkeit eine Demonstration der Stärke. Seht her, wir können nicht nur jedes Ziel auf diesem Planeten mit unseren Waffen ausradieren, wir können auch an jedem Ort dieser Welt eine Berliner Mauer rund um unseren Präsidenten aufbauen, damit dieser ungestört von Terrorfischen die Staatszwerge umarmen kann, die er durch den Todesstreifen seines Secret Service in die Zone hineinlässt.
In der Zone, das wissen wir aus Tarkowskijs Film »Der Stalker«, herrschen ganz eigenwillige Naturgesetze. Dies ist in der Bush-Zone ähnlich. Hier gelten die Moralgesetze des Bibelgürtels, dieses intellektuellen Todesstreifens mitten in den USA, und des Militärisch-Industriellen-Komplexes, der mächtigsten Lobbygruppe der Welt, die beim Anblick einer Friedenstaube eitrigen Hautausschlag bekommt.
Amerika ist eine Monade, die zwar jeden Kontakt mit der Außenwelt verloren hat, dafür aber direkt mit Gott kommuniziert. Und Al Qaida ist der Feind, den die USA immer ersehnt haben, eine Inkarnation ihrer eigenen Hollywood-Visionen. Das Böse ist überall und nirgends da draußen, außerhalb der Zone, in der der Präsident monadisiert. Man kann es also auch überall und nirgends bekämpfen. Wo immer der Militärisch-Industrielle-Komplex gerade Krieg führen möchte, der Internationale Terrorismus ist bestimmt schon da, um als Rechtfertigung zu dienen.
Die Berliner Mauer hat sich bereits nach wenigen Stunden nach Bratislava verzogen zu den neuen Europäern. Der Todesstreifen der Macht rund um Mainz ist wieder verschwunden. Und zurück bleibt Ratlosigkeit.
Was verbindet uns noch mit dieser Macht, außer der Tatsache, dass es die Macht ist? Selbst der Hofnarr des Amerikanismus, Michael Moore, hat uns nicht viel zu sagen. Wenn ich heute einen Amerikaner treffe, so erinnert mich das an eine Begegnung mit DDR-Bürgern im Jahre 1988 in Polen. Sie benahmen sich zwar ein wenig anders als wir, aber es waren ganz normale, nette Leute. Und dennoch, der Todesstreifen an der deutsch-deutschen Grenze begleitete sie überall hin. Sie konnten ihm nicht entfliehen. Sie sprachen, bis auf den sächsischen Akzent, das gleiche Deutsch wie wir. Sie litten in der Schule unter dem gleichen Goethe und dem gleichen Schiller wie wir, und trotzdem sprachen wir aneinander vorbei. So ähnlich geht es uns heute mit den Amerikanern. Wir hören die gleiche Pop-Musik, sehen die gleichen Hollywood-Filme und hören und sehen doch aneinander vorbei. Die DDR ging unter, weil niemand mehr inmitten eines Todesstreifens leben wollte. Die Amerikaner jedoch haben Bush wiedergewählt.
Man sagt, der Exzess sei der Vorbote des Untergangs. Nun gut, das abgrunddumme, bigotte, fundamentalistische und nationalistische Amerika tobt sich mit Bush an der Spitze nun wahrlich seit einigen Jahren hemmungslos aus. Hoffen wir, dass dies schon der Exzess ist und dass alles wofür George W. Bush steht, bald untergeht und dort bleibt, wo es hingehört: im Mülleimer der Geschichte direkt neben der Berliner Mauer. – Solingen den 24. Februar 2005